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Auch wegen Corona: Mehr Drogentote in Kassel

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Von: Kathrin Meyer

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Stellt eine Kerze am Gedenkstein für Drogentote auf de Holländischen Platz in Kassel auf: Birgit Graf war selbst viele Jahre abhängig.
Stellt eine Kerze am Gedenkstein für Drogentote auf de Holländischen Platz in Kassel auf: Birgit Graf war selbst viele Jahre abhängig. © Kathrin Meyer

In Kassel sind in den vergangenen zwölf Monaten deutlich mehr Menschen an Drogen gestorben. Dies liegt auch an Corona.

Kassel – 28 Menschen aus der Kasseler Drogenszene sind innerhalb der letzten zwölf Monate gestorben. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es nur 18 Personen. „Ein so hohes Aufkommen an Verstorbenen hatten wir schon mehrere Jahre nicht mehr“, sagt Claudia Roersch, Leiterin des Café Nautilus der Drogenhilfe Nordhessen. Die meisten Todesfälle hätten schwere Vorerkrankungen gehabt.

Bei den Fällen, die Roersch aufführt, handelt es sich nicht ausschließlich um Todesfälle durch eine Überdosis, sie führt auch die Szene-Mitglieder an, die an den Langzeitfolgen des Drogenkonsums gestorben sind.

Die Statistik der Kasseler Polizei bestätigt den Bundestrend der steigenden Zahlen bei Drogentoten allerdings nicht. Die Zahlen in Kassel sind rückläufig. Gab es 2018 noch 12 Drogentote, waren es 2019 nur 6 und 2020 starben 3 Personen durch Drogenkonsum. Die Polizeistatistik weist nur die Fälle aus, in denen eine Überdosis zum Tod geführt hat.

Für Streetworker Timo Eichel ist das zu kurz gegriffen. Aus seiner Sicht muss man alle Fälle im Bereich der Szene erfassen, und das sind eben zuletzt auch viele, in denen Langzeitfolgen zum Tod geführt haben. Zudem gab es vergangenes Jahr 12 Drogennotfälle, wo der Streetworker der Drogenhilfe den Rettungswagen rufen musste. In einem Fall sei die Person nicht mehr ansprechbar gewesen. „Das ist auch für uns nicht alltäglich“, sagt Eichel.

„Es ist natürlich nicht möglich, einen direkten Zusammenhang zu Corona herzustellen“, sagt Claudia Roersch. Dennoch liegt für sie der Gedanke nahe, dass eine verstärkte Vereinsamung durch fehlende Sozialkontakte zu erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum führt und außerdem der Lebenswille durch verstärkte Depressionen herabgesetzt wird – ähnlich wie es in diesen Zeiten auch bei alten Menschen der Fall ist. Vielen Drogenabhängigen fehlt eine familiäre Anbindung. Soziale Kontakte gibt es im Wesentlichen im öffentlichen Raum bei Szenetreffen, beschreibt es Roersch. Das ist derzeit kaum möglich. Viele Abhängige kommen daher trotzdem in die Innenstadt, vor allem um der Einsamkeit zu entfliehen.

„Es ist stark zu vermuten, dass diese Umstände auch eine Rolle bei der hohen Sterblichkeit gespielt haben“, sagt Roersch. Mehrere der Toten lagen zudem viele Tage in ihren Wohnungen, bevor sie entdeckt wurden. „Durch die Beschränkungen dauert es länger, bis ein Mensch vermisst wird.“

Bislang ist Birgit Graf kein Corona-Fall im Kasseler Drogenmilieu bekannt. Aber wenn es dazu kommt, dann fegt das Virus durch die ganze Szene, befürchtet die 61-Jährige, die selbst viele Jahre abhängig war. Masketragen und Abstandhalten wird noch nicht überall ernst genommen, ist ihr Eindruck.

Das hat aber vor allem einen Grund, und der ist nicht, dass die Menschen im Milieu nicht davon wissen. „Wenn die Wahrheit zu bedrohlich ist, wird sie negiert“, sagt die 61-Jährige. „Viele ziehen sich eher raus und schieben das Thema in der eigenen Lebenswelt in den Hintergrund.“

Musiker wie Nena, Xavier Naidoo und bekannte Persönlichkeiten wie Attila Hildmann sind in der Szene beliebt, schildert es Graf. Das hat aus ihrer Sicht einen großen Einfluss auf viele. Hinzu kommt, dass viele Abhängige alleine leben. Die meisten haben keinen Rückhalt durch Freunde und Familie. „Sie gehen deshalb einfach trotzdem raus, in die Innenstadt, um dort andere zu treffen.“

Die üblichen Plätze sind rund um den Friedrichsplatz, im Bereich Lutterkirche und am Königsplatz. Einige haben vom Ordnungsamt Bußgeldbescheide verhängt bekommen. „Sie wissen nicht, wie sie die bezahlen sollen“, weiß Birgit Graf.

Denn jeder Abhängige hat seine eigene „Überlebensstrategie“, beschreibt sie es. Am häufigsten wird mit Drogen gedealt, sich prostituiert, Flaschen gesammelt oder eben geschnorrt, um den Drogenkonsum zu finanzieren. All das ist durch Corona kaum noch möglich. „Das bringt viele in massive Probleme“, sagt Graf. Einige Abhängige würden auch Dinge klauen wie Spielzeug und die verkaufen. Sie vermutet, dass diese Kriminalität durch Corona zunimmt.

Auch glaubt sie, dass durch das Virus die Qualität der Drogen abnimmt. „Manches wird massiv gestreckt, das kann gefährlich werden.“ Birgit Graf selbst war viele Jahre abhängig – erstmals als junge Frau mit Anfang 20. Ich bin dort durch private Probleme reingerutscht, beschreibt sie es. Nach Kassel ist sie 1987 nach ihrer ersten Therapie gekommen. Viele Jahre ist sie stabil, wie sie es nennt, kümmert sich um ihren Sohn. Als der ausgezogen ist, „bin ich wieder abgeschmiert“, erzählt sie.

2012 wird sie Großmutter, für sie der Auslöser, einen Heroinentzug zu machen. Nicht erneut eine Entgiftung in einer Klinik, sondern zuhause. „Mir ist es auch gar nicht so schwergefallen, mich mithilfe entsprechender Medikamente runter zu dosieren“, sagt sie. Seitdem engagiert sie sich in der Szene, unterstützt andere. Eine Wohnung hat Birgit Graf in all den Jahren immer gehabt. Das war ihr wichtig, ein festes Zuhause hätte sie nie aufgeben wollen. „Aber viele haben eben diesen Rückzugsort nicht“, sagt die Kasselerin. Hinzu kommt, dass die Notschlafstellen wegen Corona reduziert werden mussten.

„Mich wundert, dass es noch keine Suizide in der Szene gegeben hat“, sagt Birgit Graf. Die Einsamkeit und das Fehlen alltäglicher Begegnungen mache den Abhängigen besonders zu schaffen. „Das ist für viele in diesen Tagen nicht leicht“, sagt Graf. „Aber Junkies haben kaum andere Dinge in ihrem alltäglichen Leben.“

Sie hat eine Kerze mitgebracht, die sie am Gedenkstein für Drogentote am Holländischen Platz aufstellen will. Auf die Plastikeinfassung hat sie Namen geschrieben. „Das sind die Namen derer aus der Szene, die ich persönlich kannte und die jetzt nicht mehr da sind.“ (Kathrin Meyer)

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