Das hat aber vor allem einen Grund, und der ist nicht, dass die Menschen im Milieu nicht davon wissen. „Wenn die Wahrheit zu bedrohlich ist, wird sie negiert“, sagt die 61-Jährige. „Viele ziehen sich eher raus und schieben das Thema in der eigenen Lebenswelt in den Hintergrund.“
Musiker wie Nena, Xavier Naidoo und bekannte Persönlichkeiten wie Attila Hildmann sind in der Szene beliebt, schildert es Graf. Das hat aus ihrer Sicht einen großen Einfluss auf viele. Hinzu kommt, dass viele Abhängige alleine leben. Die meisten haben keinen Rückhalt durch Freunde und Familie. „Sie gehen deshalb einfach trotzdem raus, in die Innenstadt, um dort andere zu treffen.“
Die üblichen Plätze sind rund um den Friedrichsplatz, im Bereich Lutterkirche und am Königsplatz. Einige haben vom Ordnungsamt Bußgeldbescheide verhängt bekommen. „Sie wissen nicht, wie sie die bezahlen sollen“, weiß Birgit Graf.
Denn jeder Abhängige hat seine eigene „Überlebensstrategie“, beschreibt sie es. Am häufigsten wird mit Drogen gedealt, sich prostituiert, Flaschen gesammelt oder eben geschnorrt, um den Drogenkonsum zu finanzieren. All das ist durch Corona kaum noch möglich. „Das bringt viele in massive Probleme“, sagt Graf. Einige Abhängige würden auch Dinge klauen wie Spielzeug und die verkaufen. Sie vermutet, dass diese Kriminalität durch Corona zunimmt.
Auch glaubt sie, dass durch das Virus die Qualität der Drogen abnimmt. „Manches wird massiv gestreckt, das kann gefährlich werden.“ Birgit Graf selbst war viele Jahre abhängig – erstmals als junge Frau mit Anfang 20. Ich bin dort durch private Probleme reingerutscht, beschreibt sie es. Nach Kassel ist sie 1987 nach ihrer ersten Therapie gekommen. Viele Jahre ist sie stabil, wie sie es nennt, kümmert sich um ihren Sohn. Als der ausgezogen ist, „bin ich wieder abgeschmiert“, erzählt sie.
2012 wird sie Großmutter, für sie der Auslöser, einen Heroinentzug zu machen. Nicht erneut eine Entgiftung in einer Klinik, sondern zuhause. „Mir ist es auch gar nicht so schwergefallen, mich mithilfe entsprechender Medikamente runter zu dosieren“, sagt sie. Seitdem engagiert sie sich in der Szene, unterstützt andere. Eine Wohnung hat Birgit Graf in all den Jahren immer gehabt. Das war ihr wichtig, ein festes Zuhause hätte sie nie aufgeben wollen. „Aber viele haben eben diesen Rückzugsort nicht“, sagt die Kasselerin. Hinzu kommt, dass die Notschlafstellen wegen Corona reduziert werden mussten.
„Mich wundert, dass es noch keine Suizide in der Szene gegeben hat“, sagt Birgit Graf. Die Einsamkeit und das Fehlen alltäglicher Begegnungen mache den Abhängigen besonders zu schaffen. „Das ist für viele in diesen Tagen nicht leicht“, sagt Graf. „Aber Junkies haben kaum andere Dinge in ihrem alltäglichen Leben.“
Sie hat eine Kerze mitgebracht, die sie am Gedenkstein für Drogentote am Holländischen Platz aufstellen will. Auf die Plastikeinfassung hat sie Namen geschrieben. „Das sind die Namen derer aus der Szene, die ich persönlich kannte und die jetzt nicht mehr da sind.“ (Kathrin Meyer)