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Heimischer DGB-Chef zum 1. Mai: „Die Menschen haben Bock auf Arbeit“

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Von: Matthias Lohr

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Vorsitzender des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen: Michael Rudolph
Vorsitzender des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen: Michael Rudolph © Martin Sehmisch

Seit Jahren verlieren die Gewerkschaften Mitglieder, die aktuellen Tarifauseinandersetzungen zeigen für den heimischen DGB-Chef Michael Rudolph indes, was man gemeinsam erreichen kann.

Kassel – Am Tag der Arbeit hören Michael Rudolph mehr Menschen zu als sonst. „An keinem anderen Tag bekommen wir so viel Aufmerksamkeit“, sagt der Vorsitzende des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen. Im ganzen Land wird am 1. Mai demonstriert, um für eine gerechte und solidarische Zukunft zu werben, wie es im Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbunds heißt. Eine der beiden hessischen Hauptkundgebungen findet am Montag in Kassel statt. Wir sprachen mit Rudolph, der Hauptredner sein wird.

Herr Rudolph, zuletzt unterhielten sich Jugendliche in Kassel über den 1. Mai und meinten, das sei der traditionelle Wandertag. Wie kann man jungen Menschen die Bedeutung des Tags der Arbeit näherbringen?

Der 1. Mai ist fest verwurzelt in der Arbeitnehmerschaft und den Gewerkschaften. Junge Menschen kommen damit meist erst in den Betrieben in Berührung, wenn es um Streiks und Tarifauseinandersetzungen geht. Das ist der Ort, an dem man das Bewusstsein dafür bekommt, dass das notwendig ist. Der Tag der Arbeit ist traditionell der Tag, an dem die Forderungen der Gewerkschaften im öffentlichen Interesse stehen. An keinem anderen Tag bekommen wir so viel Aufmerksamkeit.

Der DGB verliert jedes Jahr Mitglieder. Und Sie müssen immer wieder die Frage beantworten, ob es Gewerkschaften noch braucht.

Die braucht es auf jeden Fall. Zwar verzeichnen wir bei den Mitgliedern in den vergangenen Jahren Verluste, aber gerade in den laufenden Tarifrunden hat sich gezeigt, wie wichtig Gewerkschaften sind. Erfolge kann man nur verzeichnen, wenn man sich hinter Forderungen versammelt und sie gemeinsam durchsetzt. Und überdurchschnittlich viele Menschen treten gerade jetzt den Gewerkschaften bei. Darum heißt es in unserem Aufruf: Gemeinsam sind wir ungebrochen solidarisch. Gemeinsam können wir mehr erreichen.

Mit Klimawandel, Energieknappheit und Ukraine-Krieg gibt es Dauerkrisen. Inwiefern macht es das den Gewerkschaften schwerer, sich für die Belange der Arbeiter einzusetzen?

Diese Aufgabe wird nicht schwieriger, aber die Herausforderungen haben sich verändert. Mit Sofortmaßnahmen hat die Bundesregierung im vorigen Jahr die Preissteigerungen abgemildert – unter anderem durch eine Deckelung der Energiepreise, die die Gewerkschaften gefordert haben. Das reicht jedoch nicht. Es ist richtig, dass Betriebe angesichts der Bewältigung des Klimawandels gefördert werden. Aber wer Fördermittel bekommt, sollte die Sicherung von Arbeitsplätzen garantieren und Tariflöhne zahlen. Die Klimawende funktioniert nur, wenn sie auch sozial nachhaltig gestaltet wird.

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sagt, Streiks müssten auch mal wehtun. Inwiefern ist es gerechtfertigt, ein ganzes Land lahmzulegen, um höhere Löhne zu erreichen?

Das Streikrecht ist ein elementarer Bestandteil unserer Verfassung und das einzige Mittel, das Arbeitnehmer haben, um am Ende auf Augenhöhe zu verhandeln. Gewerkschaften wählen immer das geeignete Mittel, um Interessen durchzusetzen. In diesem Jahr sind die Menschen von hohen Preissteigerungen betroffen. Dementsprechend fallen die Lohnforderungen deutlich höher aus. Darum werden auch die Tarifauseinandersetzungen härter.

Die deutschen Gewerkschaften sind traditionell moderater als etwa die Kollegen in Frankreich. Ändert sich das nun?

Nein, aber wir sehen gerade, dass Streiks das richtige Mittel waren, um die Ziele zu erreichen. Verwundert war ich zuvor über die Hysterie im Arbeitgeberlager und in der CDU, wo manche forderten, das Streikrecht einzuschränken. Dagegen reagierte die Gesellschaft sehr gelassen auf die Streiks. Es gab viel Verständnis für die Arbeitsniederlegungen und die Forderungen. Das haben wir als Solidarität verstanden. Die Forderungen nach Einschränkung des Streikrechts nehmen wir sehr ernst. Wir werden unser Grundrecht verteidigen.

Derzeit suchen viele Betriebe Angestellte. Höhere Löhne allein sorgen nicht für mehr Fachkräfte. Was kann man dagegen tun?

Der Fachkräftemangel ist tatsächlich ein Problem. Darum brauchen wir wesentlich mehr Anstrengungen bei der Ausbildung junger Menschen. Bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Schwerbehinderten haben wir noch Luft nach oben. Zudem müssen wir über Zuwanderung sprechen. Trotzdem spielt auch die Attraktivität der Arbeitsbedingungen eine Rolle. Es geht nicht nur um Löhne, sondern auch um Arbeitszeiten und Flexibilität. Das wird den Menschen immer wichtiger.

Der Chef des Arbeitgeberverbands hat kritisiert, die Deutschen hätten „zu wenig Bock auf Arbeit“.

Das ist nicht richtig. Die Menschen haben Bock auf Arbeit. Aber die Vereinbarkeit mit der Familie, der Ruf nach einer Verkürzung der Arbeitszeit und mehr Flexibilität wird künftig eine größere Rolle spielen. Das bedeutet nicht, dass den Menschen Arbeit unwichtig geworden ist. Sie ist immer noch sinnstiftend. Die Menschen sind vielmehr selbstbewusster geworden und kennen den Wert ihrer Arbeit. Darum wird auch die Vier-Tage-Woche eine größere Rolle spielen.

Die Gewerkschaften treten für eine kontrollierte Abrüstung ein. Wären die 100 Milliarden Euro, die Kanzler Scholz in die Bundeswehr steckt, anderswo besser angelegt?

Uns hat das Bundeswehr-Paket zumindest überrascht. Die Gewerkschaften sind Teil der Friedensbewegung und der Ansicht, dass Waffen keinen Frieden schaffen. Ich finde es bemerkenswert, wie schnell die 100 Milliarden Euro mobilisiert wurden. Geht es um Geld für Krankenhäuser oder die Pflege, sind die Diskussionen immer lang und hart.

Wie sehen Sie die wirtschaftliche Entwicklung im boomenden Nordhessen?

Die Region hat sich in der Tat gut entwickelt. Das sieht man etwa an der Arbeitslosenquote und der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aber angesichts des Wandels, der erforderlich ist, darf man sich darauf nicht ausruhen. Darum haben wir mit dem Transformationsnetzwerk Region Kassel mit der Wirtschaftsförderung, Arbeitgebern und der Uni gemeinsam ein Projekt gestartet, das den Strukturwandel begleitet. Das ist eine gelungene Verlinkung zwischen Wirtschaft und Politik. Wir als DGB etablieren auch eine Beratungsstelle. Und im Baunataler VW-Werk sieht man, wie wichtig eine starke Arbeitnehmervertretung ist. Sie ist der Schlüssel zum Erfolg. Der Betriebsrat hat entscheidend bei der Neuausrichtung des Industriebetriebs mitgeholfen, der wesentlich auf Verbrennertechnik basierte. Das Baunataler Werk hat heute eine hervorragende Position im VW-Konzern.

Wie sehr besorgt Sie, dass das heimische Familienunternehmen Viessmann sein Wärmepumpen-Geschäft in die USA verkauft?

Entscheidend ist, dass das passiert, was die Unternehmerfamilie angekündigt hat: Es muss weiter in die Werke in Deutschland investiert werden. Beschäftigungsgarantien sind erst einmal gut, aber drei Jahre sind schnell vorbei. Nachhaltige Beschäftigung wird es nur mit Investitionen geben können. (Matthias Lohr)

Die DGB-Kundgebung am 1. Mai in Kassel: 9.30 Uhr: ökumenischer Gottesdienst in der Kirche St. Elisabeth am Friedrichsplatz. 10 Uhr: Beginn der Demonstration am Philipp-Scheidemann-Haus. 10.30 Uhr Kundgebung auf dem Königsplatz. 11.15 Uhr: Fortsetzung der Demo zur Drahtbrücke, wo es Musik, Stände sowie das Spielmobil Rote Rübe gibt.

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