Kasseler Gynäkologin über Paragraf 219a und Abtreibungen: „Moralische Bedenken sind konstruiert“

Nach dem Bundestagsbeschluss zur Abschaffung des Paragrafen 219a fordert die Kasseler Frauenärztin Natascha Nicklaus im HNA-Interview auch eine Legalisierung von Abtreibungen. Wir sprachen mit ihr über den Kampf um Informationen über Schwangerschaftsabbrüche und die Methoden radikaler Abtreibungsgegner.
Kassel – Die Frauenärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász aus Kassel waren Leidtragende des Paragrafen 219a – und Treiberinnen des breiten Protests, der nun zu dessen Abschaffung geführt hat. Vor wenigen Tagen hat der Bundestag die Streichung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche beschlossen. Natascha Nicklaus verfolgte Debatte und Abstimmung vor Ort in Berlin.
Sie und ihre Kollegin waren 2017 selbst von radikalen Abtreibungsgegnern angezeigt worden, weil sie auf ihrer Praxishomepage darüber informierten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Das Gerichtsverfahren war 2019 nach einer ersten Reform des Paragrafen 219a eingestellt worden.
Frau Nicklaus, wie haben Sie den Tag in Berlin erlebt?
Ich habe ein Paradestück der Demokratie am eigenen Leib erlebt. Ich saß auf der Besuchertribüne neben Kristina Hänel aus Gießen, die ja die Petition angestoßen hat, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Politik sich des Themas angenommen hat. Die Debatte des Bundestags fand ich sehr interessant. Es fiel uns aber total schwer, bei manchen Beiträgen nicht zu klatschen.
... weil sich die Besucher im Bundestag absolut ruhig verhalten müssen.
Genau. Aber nach der Abstimmung konnten wir unserer Freude Ausdruck verleihen. Als am Schluss dann die Fraktionen aufgestanden sind und uns auf der Tribüne applaudiert haben, war das schon eindrucksvoll. Dabei standen wir stellvertretend für all die vielen Menschen, die gegen 219a gekämpft haben. Meine Kollegin Nora Szász konnte urlaubsbedingt leider nicht in Berlin dabei sein, aber sie hat wahnsinnig viel geleistet und ausgehalten in den vergangenen Jahren. Sie, die stärker als ich in der Öffentlichkeit stand, musste einige Hassmails und viel Schmutz im Netz ertragen. Wir haben aber auch einen handschriftlichen zweiseitigen Brief von einer Dame bekommen, die sich Sorgen machte, dass wir in die Hölle kommen. Zum Glück gab es auch irre viel Unterstützung. Das hat uns getragen.
Was bedeutet Ihnen die Abschaffung des Paragrafen persönlich?
Das Gesetz passt jetzt zum Internet-Zeitalter und zu meiner persönlichen Haltung. Künftig können wir auf unserer Webseite Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen veröffentlichen und damit signalisieren, dass es bei uns Hilfe gibt. Ungewollt Schwangere müssen wirklich viel organisieren, da sind konkrete Informationen hilfreich. Ich bin überzeugt, dass die große Mehrheit der Menschen dagegen auch nichts einzuwenden hat. Es waren im Wesentlichen zwei Personen, die den Paragrafen genutzt haben, um gegen Abtreibungen zu agitieren. Die durften die ganze Zeit im Internet jede Menge Grauenhaftes veröffentlichen, aber wir Ärztinnen durften keine sachliche, medizinische Information geben. Als ob man Frauen von einer Abtreibung abhalten kann, indem man ihnen Informationen vorenthält.
Wie bewerten Sie die gesellschaftliche Tragweite der Bundestagsentscheidung?
Man sieht daran, dass sich etwas ändern kann und dass wir selbst dazu beitragen können. Seit Anfang der 2000er-Jahre haben viele Ärztinnen und Ärzte im Zuge der Einschüchterung durch Abtreibungsgegner Informationen von ihren Webseiten entfernt. Die Staatsanwaltschaften haben – wie auch bei uns – gesagt: Wenn ihr es runternehmt, stellen wir das Verfahren ein. Wir haben uns auf den Deal nicht eingelassen und stattdessen erfolgreich gekämpft. Abtreibungen gehören zur Frauenheilkunde dazu und ich hoffe, dass das künftig auch im Netz wieder deutlicher wird.
Sie waren 2017 angezeigt worden, weil auf der Praxis-Webseite stand, dass Sie Abbrüche machen. Hatten Sie das bewusst aufgeführt oder waren Ihnen die Folgen nicht bewusst?
Als wir das auf die Seite gestellt haben, war uns tatsächlich nicht klar, dass dieser Halbsatz unter den Paragrafen 219a fällt. Wir haben dann zwar entsprechende Hinweise von Kolleginnen bekommen, konnten uns nach der Lektüre des Gesetzestextes aber immer noch nicht vorstellen, dass unser Eintrag wirklich strafbar sein könnte. Im Gesetz ist die Rede von Vermögensvorteil und grober Anstößigkeit – beides fanden wir nicht zutreffend. Der Begriff „Werbung“ ist ja auch vollkommen irreführend. Er unterstellt, dass ungewollt Schwangere sich für einen Abbruch entscheiden, weil sie so leicht an Informationen kommen.
Wie viele Abbrüche machen Sie in Ihrer Praxis?
Etwa 80 bis 100 pro Jahr. Kassel hat in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche eine ungewöhnlich gute Infrastruktur. Es gibt zwei Tageskliniken, in denen täglich Abbrüche durchgeführt werden. Das ist in vielen Regionen Deutschlands ganz anders. Zu Kristina Hänel in Gießen etwa kommen die Frauen teilweise von weit her angereist, um sich behandeln zu lassen. Bei uns kommt es nur selten vor, dass Frauen von weit außerhalb nach einem Schwangerschaftsabbruch fragen. Aus den umliegenden Landkreisen kommen aber viele Patientinnen.
Mit jeder Abtreibung wird beginnendes Leben beendet. Haben Sie da als Ärztin nicht auch Skrupel?
Nein, gar nicht. In einem Embryo steckt zwar das Potenzial für ein ganzes Leben – aber eben nur das Potenzial. Die moralischen Bedenken halte ich für konstruiert. In den meisten Fällen ist zum Zeitpunkt des Abbruchs der Embryo weniger als 10 Millimeter groß. Dann schon von einem Kind und von Tod zu sprechen, ist irreführend. Auch bei einer Fehlgeburt in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten wird ja gesellschaftlich nicht davon gesprochen, dass ein Kind gestorben ist. Die betroffenen Frauen bekommen auch keinen Mutterschutz wie nach einer Totgeburt. Wir helfen Frauen, die sich selbstbestimmt gegen diese Schwangerschaft entschieden haben, in einem guten medizinischen Setting. Die Alternative wären unsichere und riskante Abbrüche – und nicht, dass mehr Frauen Schwangerschaften austragen.
Es heißt oft: Keine Frau macht sich die Entscheidung für eine Abtreibung leicht. Ist das nach Ihrer Erfahrung wirklich so?
Niemand nimmt einfach so Medikamente oder lässt sich operieren – egal, worum es geht. Es gibt Frauen, die anfangs ambivalent sind. Da leisten die Beratungsstellen eine super Arbeit und unterstützen bei der Suche nach einer Entscheidung. Aber es gibt viele Frauen, die direkt wissen: Diese Schwangerschaft kann und will ich in meiner jetzigen Situation nicht austragen. Etwa, weil die Beziehung es nicht trägt oder weil für ein weiteres Kind das Geld oder die Kraft nicht reichen. Oftmals haben ungewollt Schwangere nicht damit gerechnet, dass sie schwanger werden könnten – zum Beispiel, weil sie es in einer früheren Beziehung jahrelang vergeblich versucht haben. Oder korrekt angewandte Verhütungsmittel haben versagt. Klar ist: Solange es heterosexuellen Sex zwischen fruchtbaren Frauen und Männern gibt, wird es ungewollte Schwangerschaften geben. Und dann wird es auch immer Schwangerschaftsabbrüche geben, egal wie schwer der Zugang ist.
Wäre es nicht sinnvoller, gesellschaftlich mehr für Verhütung zu tun?
Auf jeden Fall. Es sollte präventiv viel mehr in Information über Verhütungsmittel und den Zugang dazu investiert werden. Und Menschen, die sich für Kinder entscheiden, brauchen auch noch viel mehr gesellschaftliche Unterstützung.
Abtreibungsgegner plädieren für den Schutz des ungeborenen Lebens und setzen sich für Adoptionen ein. Was halten Sie davon?
Würden wir Abtreibungen strikt verbieten, so wie es in Teilen der USA jetzt passiert, wäre das ein Gebärzwang. Tatsächlich sind die gesundheitlichen Risiken einer ausgetragenen Schwangerschaft höher als die eines Abbruchs. Es widerspräche dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen, wenn die Gesellschaft das verlangen würde. Die Idee, Kinder zur Adoption freizugegeben, kann man haben – und diese Möglichkeit wird ja von einigen Frauen auch genutzt. Sie ist aber keine Lösung für alle ungewollt Schwangeren. In Deutschland werden pro Jahr rund 100 000 Abbrüche gemacht.
Was glauben Sie: Werden viele Gynäkologen nun auf Ihren Webseiten über Abtreibungen informieren? Oder ist die Angst noch zu groß?
Das ist eine sehr persönliche Entscheidung. Man macht sich angreifbar, wenn man Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die zwar Abtreibungen vornehmen, das aber in ihrem Bekanntenkreis nicht thematisieren. Ein Schwangerschaftsabbruch ist ja grundsätzlich strafbar. Von der Gesetzgebung her soll eine Abtreibung eben schuldbeladen sein, und zwar für beide: die Frau und die Ärztin oder den Arzt. Es ist irgendwie ein Schmuddelding. Ich bin deshalb gespannt, wie viele Praxen die Abschaffung von Paragraf 219a nutzen und auf ihren Homepages informieren werden.
Die Bundestagsentscheidung wurde als „historisch“ bezeichnet. Doch ein Schwangerschaftsabbruch gilt nach wie vor als Straftat, die im medizinischen Kontext straffrei bleibt. Ist der Wegfall von 219a nur ein Etappenziel?
Ja, ich halte die Abschaffung des Werbungsverbots für eine sehr wichtige Entscheidung. Aber das große Ziel ist, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden – dort steht der Paragraf 218 ja im Rahmen der Tötungsdelikte. Ich erwarte, dass die aktuelle Koalition noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf dazu vorlegt.
Werden Sie und Frau Szász also weiterkämpfen?
Selbstverständlich!

Natascha Nicklaus ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie hat in Marburg studiert und war nach der fachärztlichen Ausbildung zunächst in der Frauenklinik im Kasseler Klinikum tätig. 2012 hat sie mit Nora Szász eine Gemeinschaftspraxis im Vorderen Westen gegründet. Natascha Nicklaus lebt in Kassel.