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Notfallsanitäter in Kassel üben Kritik: Ärztlicher Leiter blockiert Medikamentenfreigabe

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Von: Sebastian Schaffner, Anna-Laura Weyh

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Immer einsatzbereit: Die Rettungsdienste und Feuerwehren müssen hohen Belastungen standhalten und brauchen dafür ausreichend Personal.
Immer einsatzbereit: Die Rettungsdienste und Feuerwehren müssen hohen Belastungen standhalten und brauchen dafür ausreichend Personal. © dpa

Die Notfallsanitäter im Raum Kassel werfen dem Ärztlicher Leiter vor, die Medikamentenfreigabe zu blockieren. In Kassel sind im Notfall nicht alle Schmerzmittel zugelassen.

Kassel/Kreis Kassel – Notfallsanitäter in der Region Kassel üben Kritik, weil sie in ihrem Arbeitsalltag nicht das tun dürfen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, zum Beispiel Patienten im Notfall bestimmte Schmerzmittel zu verabreichen. Die Entscheidung darüber trifft der Ärztliche Leiter Rettungsdienst der Region (ÄLRD). Er – so der Vorwurf – gibt für Notfallsanitäter in der Region jedoch nicht alle Medikamente frei.

Mit der Kritik haben sich Notfallsanitäter an den Landtagsabgeordneten Oliver Ulloth (Kassel-Land I) gewendet. Sie wollen anonym bleiben, weil sie sonst Konsequenzen befürchten, so der SPD-Abgeordnete aus Vellmar. HNA-Recherchen zeigen, dass es in Rettungsdienst und Kliniken Unmut gibt.

„Wenn für Notfallsanitäter nur ein Mittel gegen Schmerzen freigegeben ist, schränkt das die Arbeit in der Notaufnahme ein“, heißt es etwa aus einem Krankenhaus. Denn Medikamente wie Morphin oder Fentanyl dürften nach der Behandlung mit Nalbuphin – dem einzigen für Notfallsanitäter zugelassenen Mittel in Kassel – nicht mehr verabreicht werden, heißt es. Namentlich äußern möchte sich niemand.

Oft früher am Einsatzort als Notarzt

Notfallsanitäter gibt es hier seit 2014. Nach einer dreijährigen Ausbildung beurteilen sie bei medizinischen Notfällen den Gesundheitszustand kranker und verletzter Menschen. Da sie im ländlichen Raum oft eher am Unfallort sind als ein Arzt, haben sie die Erstversorgungskompetenz. Sie übernehmen nach Vorgaben der Ärztlichen Leitung die medizinische Erstversorgung und ergreifen lebensrettende Sofortmaßnahmen.

ÄLRD Torsten Müller sagt hingegen: „Die Behauptung, dass eine Weiterbehandlung in Notaufnahmen bei Vorbehandlungen mit Nalbuphin nicht möglich sei, ist so nicht korrekt.“ Es sei eine Dosisanpassung erforderlich. „Das ist keine zusätzliche Erschwernis in der Behandlung, sondern stellt eine gängige und geübte Praxis dar“, sagt er.

Die Meinungen darüber gehen jedoch auseinander. Im Arzneimittelverzeichnis Gelbe Liste sind die Mittel kontraindiziert aufgelistet. „Sie wirken an speziellen Rezeptoren teilweise entgegengesetzt. Dadurch müsste man anschließend etwa übermäßig viel Fentanyl verabreichen. Dies könnte verstärkte Nebenwirkungen nach sich ziehen“, so Dennis Witt, Apotheker in Kassel.

Der Lehrplan für die Ausbildung der Notfallsanitäter gilt hessenweit. In umliegenden Landkreisen orientieren sich ÄLRD an diesen Algorithmen in der Praxis und geben somit mehr Schmerzmittel für Notfallsanitäter frei. Dass die Vorgaben in Kassel teilweise davon abweichen, habe fachliche, aber auch regionale Gründe: Oberste Devise sei jedoch die bestmögliche Versorgung der Patienten.

Laut Ulloth gehört Kassel mit Blick auf die fehlende Freigabe von Medikamenten zu „den rückständigsten Rettungsdienstbereichen in Hessen“. Die Arbeit der Rettungsdienste stellt er ausdrücklich nicht in Frage. „Von deren Arbeit bin ich überzeugt.“

Forderung nach einheitlichen Rechten für den Rettungsdienst 

Notfallsanitäter der Region Kassel dürfen Patienten – anders als in ihrer Ausbildung – im Notfall nur ein bestimmtes Schmerzmedikament verabreichen. In umliegenden Landkreisen ist das anders. Die Entscheidung darüber trifft der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ÄLRD). Das führe aber zu Problemen bei der Weiterbehandlung in den Notaufnahmen der Kliniken. Fragen und Antworten dazu.

Wie werden die Vorgaben in Kassel festgelegt?

Im Rettungsdienstbereich Kassel entscheidet Torsten Müller als ÄLRD über die geltenden Algorithmen – also darüber, wie die mehr als 350 Notfallsanitäter in Stadt und Landkreis Kassel bei einem medizinischen Notfall vorgehen sollen. Außerdem entscheidet er über die einheitliche Ausstattung von Material und Medikamenten in seinem Rettungsdienstbereich.

Es gebe jeden Monat einen Austausch zwischen Müller und den beteiligten Hilfsorganisationen, teilt die Stadt Kassel mit. „In den Besprechungen werden aktuelle Probleme des Rettungsdienstes und zukünftige Entwicklungen im Kasseler Rettungsdienst besprochen und abgestimmt“, so ein Sprecher.

Was ist der Kritikpunkt?

Umliegende Landkreise orientieren sich bei den kommunalen Vorgaben an hessischen Algorithmen zur Notfallversorgung. Diese werden von einer Expertengruppe des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration entwickelt und dienen als Lehr- und Prüfungsinhalt für die einheitliche Notfallsanitäter-Ausbildung an den hessischen Rettungsdienstschulen. In Kassel weichen die geltenden Vorgaben allerdings teilweise von den Hessen-Algorithmen ab.

Ist das erlaubt?

Ja. Die Hessen-Algorithmen regeln nur den Lehr- und Prüfungsinhalt. Sie legen nicht fest, welche Maßnahmen von Notfallsanitätern bei der Berufsausübung im jeweiligen Rettungsdienstbereich ausgeübt werden dürfen. Das entscheidet der ÄLRD (Hessischen Rettungsdienstgesetz und Notfallsanitätergesetz).

Warum weichen die Kasseler Vorgaben von den Hessenalgorithmen ab?

Die Hessenalgorithmen würden nicht alle dem aktuellen medizinischen Stand entsprechen, so die Stadt Kassel. „Um die Aktualität der Algorithmen zu wahren, werden diese in Kassel regelmäßig evaluiert und angepasst. Regionale Unterschiede in der Grundversorgung im jeweiligen Einsatzgebiet, dem Personalstand und die strategische Ausrichtung führen ebenfalls zu Anpassungen“, sagt ein Stadtsprecher.

In Kassel darf nur Nalbuphin, nicht aber Morphin oder Fentanyl von Notfallsanitäter gegeben werden. Warum?

Morphin und Fentanyl seien Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz und somit unter die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung fallen. Deren Anwendung sei aus notfallmedizinischer und rechtlicher Sicht nicht unbedenklich, so ÄLRD Torsten Müller. Solche Anwendungen sollten bei bestehenden Alternativen nicht auf das nicht-ärztliche Personal ohne Not übertragen werden.

Im Rettungsdienstbereich Kassel sei mit Nalbuphin ein Weg gefunden worden, ein Opiat für die Notfallsanitäter freizugeben, welches in der Anwendung weder rechtliche noch notfallmedizinische Bedenken mit sich bringt“, so Müller. Den Notfallsanitätern soll nichts auferlegt werden, was sie nicht erlernt haben oder beherrschen und für das sie letztlich juristisch und moralisch in Haftung genommen werden können, so Müller.

Was hat das für Folgen für die Menschen in Kassel?

Es sei für die Menschen ein Unterschied, ob man in der Region Kassel oder in einer Nachbarregion in eine medizinische Notsituation gerate, sagt Landtagsabgeordneter Oliver Ulloth (SPD): „Für mich steht fest, dass die Ungleichbehandlung in unserer Region vielfach für unnötiges Leiden der Patientinnen und Patienten sorgt.“

Denn die Behandlung mit Nalbuphin führe in den Notaufnahmen der Kliniken zu Problemen bei der Weiterbehandlung. Beispielsweise Fentanyl und Morphin können dann nicht mehr einfach verabreicht werden. Außerdem sei Nalbuphin nicht so wirkungsvoll gegen Schmerzen. Dem jedoch widerspricht Torsten Müller.

Was fordern Akteure des Rettungsdienstes?

„Klar ist: Niemand wird sterben, weil er oder sie ein bestimmtes Medikament nicht bekommt, aber ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum unterschiedliche Regeln gelten“, sagt Ulloth. Auch Vertreter aus dem Kasseler Rettungsdienst wünschen sich einheitliche Regeln für das gesamte Bundesland.

Auch Ulloth fordert einheitliche Rechte für den Rettungsdienst. „Zur besseren Versorgung muss die Ungleichbehandlung aufgehoben werden, damit Notfallsanitäter auch in unserer Region bestmöglich helfen dürfen“, so der SPD-Landtagsabgeordnete.

Was sagt das Land Hessen dazu?

Dem zuständigen Hessischen Minister für Soziales und Integration, Kai Klose (Grüne), sei die Problematik spätestens seit einer im Dezember beantworteten Kleinen Anfrage aus der SPD-Fraktion bekannt, so Ulloth. Der Forderung nach einer Gesamtauswertung aller Standardarbeitsanweisungen in den 25 hessischen Rettungsdienstbereichen samt Richtwerten für die Medikamentengaben durch die Ärztlichen Leitungen kam das Ministerium nicht nach.

Es sei nur mit einem unverhältnismäßigen Arbeitsaufwand zu ermitteln, heiß es damals. Jetzt heißt es auf HNA-Nachfrage, dass es im Ministerium bekannt sei, „dass es unter den aktuellen Voraussetzungen Unmut bei manchen Notfallsanitätern gibt“. Das Land stehe deshalb im Austausch mit den ÄLRD, um die Behandlungsrichtlinien anzupassen. Eine vollständige Einheitlichkeit sei aufgrund der dynamischen Entwicklung in der Medizin und unterschiedlichen Anforderungen in ländlichen und städtischen Rettungsdienstbereichen jedoch nicht einfach umzusetzen, so eine Ministeriumssprecherin.

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