Im Rettungsdienstbereich Kassel entscheidet Torsten Müller als ÄLRD über die geltenden Algorithmen – also darüber, wie die mehr als 350 Notfallsanitäter in Stadt und Landkreis Kassel bei einem medizinischen Notfall vorgehen sollen. Außerdem entscheidet er über die einheitliche Ausstattung von Material und Medikamenten in seinem Rettungsdienstbereich.
Es gebe jeden Monat einen Austausch zwischen Müller und den beteiligten Hilfsorganisationen, teilt die Stadt Kassel mit. „In den Besprechungen werden aktuelle Probleme des Rettungsdienstes und zukünftige Entwicklungen im Kasseler Rettungsdienst besprochen und abgestimmt“, so ein Sprecher.
Umliegende Landkreise orientieren sich bei den kommunalen Vorgaben an hessischen Algorithmen zur Notfallversorgung. Diese werden von einer Expertengruppe des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration entwickelt und dienen als Lehr- und Prüfungsinhalt für die einheitliche Notfallsanitäter-Ausbildung an den hessischen Rettungsdienstschulen. In Kassel weichen die geltenden Vorgaben allerdings teilweise von den Hessen-Algorithmen ab.
Ja. Die Hessen-Algorithmen regeln nur den Lehr- und Prüfungsinhalt. Sie legen nicht fest, welche Maßnahmen von Notfallsanitätern bei der Berufsausübung im jeweiligen Rettungsdienstbereich ausgeübt werden dürfen. Das entscheidet der ÄLRD (Hessischen Rettungsdienstgesetz und Notfallsanitätergesetz).
Die Hessenalgorithmen würden nicht alle dem aktuellen medizinischen Stand entsprechen, so die Stadt Kassel. „Um die Aktualität der Algorithmen zu wahren, werden diese in Kassel regelmäßig evaluiert und angepasst. Regionale Unterschiede in der Grundversorgung im jeweiligen Einsatzgebiet, dem Personalstand und die strategische Ausrichtung führen ebenfalls zu Anpassungen“, sagt ein Stadtsprecher.
Morphin und Fentanyl seien Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz und somit unter die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung fallen. Deren Anwendung sei aus notfallmedizinischer und rechtlicher Sicht nicht unbedenklich, so ÄLRD Torsten Müller. Solche Anwendungen sollten bei bestehenden Alternativen nicht auf das nicht-ärztliche Personal ohne Not übertragen werden.
Im Rettungsdienstbereich Kassel sei mit Nalbuphin ein Weg gefunden worden, ein Opiat für die Notfallsanitäter freizugeben, welches in der Anwendung weder rechtliche noch notfallmedizinische Bedenken mit sich bringt“, so Müller. Den Notfallsanitätern soll nichts auferlegt werden, was sie nicht erlernt haben oder beherrschen und für das sie letztlich juristisch und moralisch in Haftung genommen werden können, so Müller.
Es sei für die Menschen ein Unterschied, ob man in der Region Kassel oder in einer Nachbarregion in eine medizinische Notsituation gerate, sagt Landtagsabgeordneter Oliver Ulloth (SPD): „Für mich steht fest, dass die Ungleichbehandlung in unserer Region vielfach für unnötiges Leiden der Patientinnen und Patienten sorgt.“
Denn die Behandlung mit Nalbuphin führe in den Notaufnahmen der Kliniken zu Problemen bei der Weiterbehandlung. Beispielsweise Fentanyl und Morphin können dann nicht mehr einfach verabreicht werden. Außerdem sei Nalbuphin nicht so wirkungsvoll gegen Schmerzen. Dem jedoch widerspricht Torsten Müller.
„Klar ist: Niemand wird sterben, weil er oder sie ein bestimmtes Medikament nicht bekommt, aber ich kann wirklich nicht nachvollziehen, warum unterschiedliche Regeln gelten“, sagt Ulloth. Auch Vertreter aus dem Kasseler Rettungsdienst wünschen sich einheitliche Regeln für das gesamte Bundesland.
Auch Ulloth fordert einheitliche Rechte für den Rettungsdienst. „Zur besseren Versorgung muss die Ungleichbehandlung aufgehoben werden, damit Notfallsanitäter auch in unserer Region bestmöglich helfen dürfen“, so der SPD-Landtagsabgeordnete.
Dem zuständigen Hessischen Minister für Soziales und Integration, Kai Klose (Grüne), sei die Problematik spätestens seit einer im Dezember beantworteten Kleinen Anfrage aus der SPD-Fraktion bekannt, so Ulloth. Der Forderung nach einer Gesamtauswertung aller Standardarbeitsanweisungen in den 25 hessischen Rettungsdienstbereichen samt Richtwerten für die Medikamentengaben durch die Ärztlichen Leitungen kam das Ministerium nicht nach.
Es sei nur mit einem unverhältnismäßigen Arbeitsaufwand zu ermitteln, heiß es damals. Jetzt heißt es auf HNA-Nachfrage, dass es im Ministerium bekannt sei, „dass es unter den aktuellen Voraussetzungen Unmut bei manchen Notfallsanitätern gibt“. Das Land stehe deshalb im Austausch mit den ÄLRD, um die Behandlungsrichtlinien anzupassen. Eine vollständige Einheitlichkeit sei aufgrund der dynamischen Entwicklung in der Medizin und unterschiedlichen Anforderungen in ländlichen und städtischen Rettungsdienstbereichen jedoch nicht einfach umzusetzen, so eine Ministeriumssprecherin.