SPD-Politikerin hält Geselles Rückzug politisch für „katastrophal“
Nach dem Rückzug von Amtsinhaber Christian Geselle als OB-Kandidat sorgen sich viele um die politische Kultur in Kassel.
Kassel – Am Tag nach seinem überraschenden Rückzug als OB-Bewerber beantwortet Christian Geselle keine Fragen. Der Amtsinhaber stehe für kein Statement zur Verfügung, teilt Rosa-Maria Hamacher von seiner Wählerinitiative mit. Auch sie selbst, die Geselles Kampagne mitorganisiert hat, will nichts sagen. Dabei sind viele Fragen offen.
Einige Anhänger zeigen Verständnis für die Entscheidung, andere sind enttäuscht. Viele sprechen von einem schlechten Tag für die Demokratie, weil die Wähler nun keine Auswahl mehr haben. Wir haben mit den wenigen gesprochen, die reden wollten.

Eine, der sonst nie etwas die Sprache verschlägt, ist Esther Kalveram. Normalerweise postet die SPD-Landtagsabgeordnete jeden Morgen auf Facebook einen Kommentar zur HNA und zur politischen Lage. Gestern schreibt sie nur, dass sie schlecht geschlafen habe. Bereits am Vorabend hatte Kalveram kommentiert: „Ich bin zutiefst erschüttert. Menschlich kann ich diese Entscheidung verstehen. Politisch halte ich sie für katastrophal.“
OB-Wahl in Kassel: „Wir haben ihn versucht, davon abzubringen, aber vergeblich“
Die 56-Jährige war am Sonntag dabei, als Geselle in seinem Büro mit Vertrauten zusammensaß und ihnen die Entscheidung verkündete, mit der niemand gerechnet hatte. „Wir haben ihn versucht, davon abzubringen, aber vergeblich. Er hat dies mit seiner Familie entschieden“, sagt Kalveram.
Die Forstfelderin hat Geselle im Wahlkampf unterstützt, zugleich aber immer betont, dass sie in der zerstrittenen Partei Brücken bauen wolle. Nun ist für sie der schlimmste Fall eingetreten: Geselle wird bald kein OB mehr sein, und die Kasseler SPD hat das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren: „Für die Demokratie war es kein guter Abend. Am Sonntag hatte niemand einen Grund zum Feiern.“
Kalveram kann nachvollziehen, dass Geselle seine Familie schützen will. Die verbleibenden zwei Wochen bis zur Stichwahl, so schätzte es Geselle ein, würden für seine Frau und Kinder noch härter werden als die letzten Tage. Schlagzeilen machte unter anderem ein Vorfall. An einem frühen Samstagmorgen sollen Vermummte vor dem Haus des Rathaus-Chefs gepocht und gerufen haben.
Laut Kalveram war die Sicherheitslage zuletzt gravierend. Am Samstag beim Familienfest des Geselle-Teams hätten gleich drei Polizeiwagen auf dem Königsplatz gestanden. „So etwas gibt es sonst nur bei der AfD. Die Stimmung in diesem Wahlkampf war so zugespitzt, wie ich es noch nie erlebt habe“, sagt Kalveram. Auch die Anti-Geselle-Seite, deren anonyme Autoren in den vergangenen Wochen zur Abwahl des OBs aufgerufen hatten, ist für die erfahrene Politikerin „klassisches Negative Campaigning“.
Kasseler SPD-Politikerin Kalveram: „Die Stadt wird nicht komplett grün“
Zum Zustand der SPD will sich Kalveram nicht äußern. Die Gremien müssten über den weiteren Weg entscheiden. Man hört aus ihren Worten, dass der Job, den sie leidenschaftlich ausübt wie wenige, gerade nicht viel Spaß macht. Trotzdem gibt sie sich vor der Landtagswahl im Oktober kämpferisch: „Ich gewinne den Wahlkreis Kassel-Ost. Die Stadt wird nicht komplett grün.“ In ihrem Stadtteil holte der Grünen-Kandidat Schoeller am Wochenende nur neun Prozent.
Einige Beobachter der Lokalpolitik sind überzeugt: Ohne Jens Rose hätte Christian Geselle als unabhängiger Bewerber nicht kandidieren können. Der Unternehmer und Vorstandssprecher des Fußball-Regionalligisten KSV Hessen war einer der wichtigsten Sponsoren der Kampagne. Gestern sagt Rose: „Ich habe keinen Groll, dass ich ihn finanziell unterstützt habe und er nun zurückgezogen hat.“ In der Demokratie sei es wie auf dem Fußballplatz, manchmal gewinne eben der andere.
Rose wundert sich, dass man Geselle viele Sachen erst vorgeworfen habe, „als er nicht mehr der Kandidat der SPD war. Als er für die Sozialdemokraten noch OB war, war es offensichtlich nicht schlimm.“ Die Polarisierung, die der Chef der Gleisbaufirma Martin Rose in diesem Wahlkampf wahrgenommen hat, sei neu. Darum sei Geselles Schritt richtig: „Ich hätte schon früher die Reißleine gezogen und mir das nicht mehr angetan.“
Kasseler SPD: „Im Moment weiß ich nicht, ob ich in der Partei bleibe“
Den Grünen-Kandidaten Sven Schoeller, der nun allein in die Stichwahl geht, kennt Rose bislang nur aus der Presse. Er sagt: „Vielleicht ist es ganz gut, wenn es Veränderungen gibt und der Klimaschutz ein größeres Gewicht bekommt.“
Auch Esther Haß von der Jüdischen Gemeinde hatte sich für Christian Geselle eingesetzt. Bei Facebook hatte die 85-Jährige zuletzt bekannt: „Christian Geselle muss Oberbürgermeister bleiben. Besser geht nicht!“ Nun ist sie entsetzt – nicht über die Entscheidung ihres Favoriten, sondern „dass es dazu kommen musste“, wie sie sagt: „Es ist mehr als berechtigt, seine Familie zu schützen. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Die politische Kultur hat durch diesen Wahlkampf Schaden genommen. Wir sind nicht in Amerika.“
Mitverantwortlich dafür macht sie die Medien. Und sie ist „schwer enttäuscht“ von den Kirchen, „die ihren Mund gehalten haben. Sie hätten längst etwas sagen müssen.“ Haß ist seit mehr als 50 Jahren in der SPD: „Im Moment weiß ich nicht, ob ich in der Partei bleibe.“
Geselle-Rückzug in Kassel: „Schlechte Nachricht für die Demokratie“
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Boris Mijatovic hat als Fraktionschef im Stadtparlament oft mit Geselle hitzig diskutiert. Dessen Rückzug bewertet der 49-Jährige als „schlechte Nachricht für die Demokratie“. Bei allem Verständnis für die Familie findet Mijatovic: „Falls es eine Bedrohungslage gab und er gegenüber den Feinden der Demokratie nachgegeben hat, dann hat die Demokratie verloren.“
Andere Bürgermeister würden sogar körperlich angegriffen und kandidierten trotzdem. Für Mijatovic stellt sich daher die Frage, „ob sich Christian Geselle der Tragweite seines Schrittes bewusst ist“. Grünen-Kandidat Schoeller müsse in der Stadtgesellschaft nun vermitteln. (Matthias Lohr)