Unverändert ist seit 50 Jahren, dass wir Beziehungsarbeit leisten. Wir haben immer mit Menschen und deren Beziehungen zu tun. Das empfinde ich seit jeher als spannend und sinnerfüllend. Was sich geändert hat, ist einerseits die Einstellung gegenüber psychologischer Beratung. Vor 50 Jahren waren die Mitarbeiter unserer Beratungsstelle unter den Ersten, die als Ehe-, Familien- und Lebensberater ausgebildet wurden. Da wurden wir auch in katholischen Kreisen mitunter argwöhnisch beäugt. Nach dem Motto: Die Leute sollen beichten gehen, und dann wird es schon gut. Generell war Psychotherapie vor wenigen Jahrzehnten gesellschaftlich noch ein Tabu. Dementsprechend schambehaftet war es für viele Paare, sich Hilfe zu suchen.
Was hat sich inhaltlich geändert? Haben Paare andere Probleme als früher?
Ja und nein. Einerseits gibt es einen deutlichen Wandel im Rollenverständnis und im Lebensalltag von Paaren und Familien. Allein dadurch, dass fast alle Frauen heute berufstätig sind. Außerdem sind Paarbeziehungen auch ohne Trauschein heute Normalität geworden, ebenso wie Patchwork-Familien. Trotzdem sind bestimmte Vorstellungen ähnlich geblieben, etwa der Wunsch nach Verbindlichkeit und Treue in einer Beziehung – und das unabhängig davon, ob verheiratet oder nicht, ob lesbisch, schwul, heterosexuell, ob jung oder alt.
Apropos: Die katholische Kirche steht nicht gerade für eine moderne Sexualmoral. Welche Rolle spielen kirchliche Glaubenssätze in Ihrer Arbeit?
Wir im Beratungsteam haben zwar einen spirituellen Hintergrund, aber natürlich muss niemand, der zu uns kommt, ein Bekenntnis ablegen. Wir beraten Paare und Familien aller Couleur – von der klassischen Ehe bis zur Regenbogenfamilie. Da haben wir überhaupt keine Vorbehalte. Überwiegend werden wir von Menschen katholischer und evangelischer Konfession aufgesucht, etwa 20 Prozent unserer Klienten gehören anderen Religionen an oder sind gar nicht religiös gebunden. Für die Beratung spielt der Glaube nur dann eine Rolle, wenn die Klienten das Thema selbst einbringen, weil es ihnen wichtig ist.
Was sind die häufigsten Anliegen, mit denen Menschen zu Ihnen kommen?
Etwa zwei Drittel unserer Arbeit macht die Paarberatung aus. Aber auch bei anderen Konflikten in der Familie kann man sich an uns wenden – etwa Eltern und deren erwachsene Kinder, wenn die Beziehung belastet ist. Wir sind keine Erziehungsberatungsstelle, aber können bei Paarkonflikten rund um Erziehungs- und Familienthemen helfen. Auch Paare in Patchwork-Konstellationen suchen häufig Rat, weil das Finden der eigenen Rolle und die Suche nach dem guten Platz für jedes Familienmitglied häufig eine Herausforderung darstellt.
Woran hapert es meist bei Paaren in der Krise?
Die Auslöser für Paarprobleme sind ganz unterschiedlich. Häufig spielen dabei Außenbeziehungen eine Rolle ...
Sie meinen Fremdgehen?
Ja, wir sprechen lieber von Außenbeziehungen, die sehr unterschiedlicher Natur sein können und häufig mit starken Kränkungen für den anderen Partner verbunden sind. Oft geht es auch um unterschiedliche Erwartungen an die Beziehung. Viele Konflikte in Beziehungen haben mit Kindheitserfahrungen zu tun. Ein grundsätzliches Thema ist die Art und Weise, wie Paare kommunizieren. Leider neigen viele dazu, sich gegenseitig mehr zu kritisieren, als Positives ausdrücklich zu benennen. Es findet sehr viel entwertende Kommunikation statt, die nicht auf gegenseitiges Verstehen ausgerichtet ist. Aber man kann lernen, konstruktiv miteinander zu sprechen und auch zu streiten. Deshalb bieten wir auch regelmäßig Kommunikationstrainings für Paare als Wochenendkurse an, die sehr gefragt sind.
Über Paarprobleme wird selten offen gesprochen – auch unter Freundinnen und Freunden. Warum?
Das Thema ist nach wie vor tabuisiert. Das liegt auch an dem verbreiteten romantischen Idealbild, das unter anderem in Filmen und Büchern verbreitet ist: Ein Paar verliebt sich, findet zueinander und ist glücklich bis ans Ende seiner Tage. Deshalb ist es für viele Menschen mit Scham und dem Gefühl eines persönlichen Makels verbunden, wenn es in der Beziehung nicht gut läuft. Nach dem Motto: Ich kriege das nicht hin. Erfreulicherweise ist die Bereitschaft, sich Hilfe zu holen, aber größer geworden. Früher musste die Not schon sehr groß sein, bis Paare zu uns gekommen sind. Heute melden sich immer mehr Paare schon früher, wenn sie spüren, dass ihre Beziehung in eine Sackgasse geraten ist.
Wie viele Beziehungen können Sie retten?
Das werden wir sehr oft gefragt. Dabei messen wir den Erfolg und Sinn unserer Arbeit nicht daran. Ich würde sagen, dass etwa zwei Drittel vom Beratungsprozess profitieren und es ihnen dadurch besser miteinander geht. Manchen Paaren ist aber auch geholfen, indem sie Klarheit finden, dass sie auseinandergehen wollen.
Nimmt der Bedarf nach Beratung zu?
Auf jeden Fall! Einerseits, weil mehr Paare bereit sind, sich beraten zu lassen. Aber sicherlich auch, weil der Wunsch nach einer erfüllenden Beziehung größer und die Frustrationstoleranz geringer geworden ist. Wir sind eigentlich immer voll ausgelastet und arbeiten mit einer Warteliste. Paartherapie wird leider nicht von den Krankenkassen übernommen und ist für Privatzahler nicht billig. Es darf aus unserer Sicht aber nicht vom Geldbeutel abhängen, ob Paare Hilfe bekommen. Deshalb bieten wir unsere Beratung seit 50 Jahren kostenfrei an, bitten aber zur Mitfinanzierung unserer Arbeit nach Möglichkeit um eine Spendenbeteiligung. Paare sind in unserer Gesellschaft leider eine vernachlässigte Größe.
Wie meinen Sie das?
Die Hilfssysteme greifen häufig erst, wenn Paare auseinandergehen. Das ist zu spät. Es wäre wichtig, allen Paaren Zugang zu professioneller Beratung zu ermöglichen. Damit könnte man sicher eine ganze Reihe Beziehungen so verbessern, dass leidvolle Trennungen – vor allem für die Kinder – vermieden werden können. Paare sind die Basis für so vieles: Sie sollen im Beruf leistungsfähig sein, gute Eltern sein, attraktiv für den Partner bleiben. Auf ihnen lasten hohe Anforderungen. Deshalb empfinde ich unser Angebot auch als gesellschaftlich systemrelevant.
Service: Katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung Kassel, Die Freiheit 2, Tel. 0561/7004-144, E-Mail: efl-beratung.kassel@bistum-fulda.de
ehe-familien-lebensberatung-bistum-fulda.de
Anette Leibold (65) ist Diplom-Theologin und Psychotherapeutin mit Zusatzausbildung als Ehe-, Familien- und Lebensberaterin. Sie arbeitet seit 37 Jahren in der EFL-Beratungsstelle der katholischen Kirche in Kassel, seit 2018 als deren Leiterin. Ihr langjähriger Kollege dort ist Marcus Drescher, zudem gehört eine Sozialpädagogin in Ausbildung zum Team. Anette Leibold ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Sie lebt in Kassel. rud