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Plötzlich Kassel statt Kiew: 130 Kinder aus der Ukraine leben ohne ihre Eltern in der Region

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Von: Katja Rudolph

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Bozhena Krisanova auf dem roten Sofa im Wohnzimmer ihrer Patentante.
In Sicherheit in Kassel: Bozhena Krisanova aus der Ukraine lebt seit zwei Monaten bei ihrer Patentante in Bettenhausen. © Katja Rudolph

130 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine leben aktuell ohne ihre Eltern in Stadt und Landkreis Kassel. Sie sind von ihren Familien hierher gebracht oder geschickt worden, um vor dem russischen Angriffskrieg in Sicherheit zu sein. Eine 14-Jährige aus Kiew, die bei ihrer Patentante lebt, haben wir getroffen.

Der Großteil der Kinder ist bei Verwandten oder Bekannten untergebracht oder in deren Begleitung gekommen. In der Regel kämen die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine bereits mit einer Vollmacht der Eltern, die dem oder der jeweils beauftragten Person das Sorgerecht übertrage, sagt Judith Osterbrink, Leiterin des Jugendamts der Stadt Kassel. „Wir erleben ein gut organisiertes Fluchtszenario.“ Das Jugendamt setze sich gegebenenfalls mit den Eltern in Verbindung, um die Vollmacht zu überprüfen. Und es erfolge ein Besuch bei der selbst organisierten Pflegefamilie.

Gerade in den ersten Wochen des Krieges seien allerdings viele Kinder privat aufgenommen worden, ohne dass das Jugendamt informiert wurde, berichtet Osterbrink. Das sei aber wichtig – auch um zu verhindern, dass Menschen mit schlechten Absichten die Notsituation der Familien aus der Ukraine ausnutzen. „Es ist im Moment einfacher denn je, an ein Kind heranzukommen.“ Noch seien aber keine problematischen Fälle bekannt.

Insgesamt sind in der Stadt 70 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine gemeldet, die ohne Eltern hier sind. Die jüngsten seien 10, der Großteil 15 bis 16 Jahre alt. Für ein Dutzend der Betroffenen habe das Jugendamt die Vormundschaft übernommen. Nur vereinzelt hätten Jugendliche kurzzeitig in einer Inobhutnahme-Einrichtung untergebracht werden müssen.

Der Landkreis Kassel betreut aktuell rund 60 unbegleitete Minderjährige aus der Ukraine. Davon halte sich etwa die Hälfte mit Familienangehörigen in Gemeinschaftsunterkünften auf, berichtet Kreissprecher Harald Kühlborn. Die anderen verteilten sich auf private Netzwerke, zwei seien über einen Sportverein untergekommen, zwei habe man in Pflegefamilien vermittelt.

Die Kasseler Jugendamtsleiterin appelliert an Familien, die ukrainische Kinder aufgenommen haben, sich bei Schwierigkeiten frühzeitig zu melden. „Man darf sich auch melden, wenn alles gut läuft“, betont sie. Ziel sei, die Pflegefamilien und Kinder so gut wie möglich zu unterstützen. Nach dem Verlust der Familie in der Ukraine seien stabile Verhältnisse wichtig für die Kinder.

Kasselerin nimmt ihr Patenkind aus Kiew auf

Eine von ihnen ist Bozhena Krisanova. Quirlig, fröhlich und aufgeschlossen wirkt die 14-Jährige. Wie ein ganz normaler Teenager eigentlich. Doch normal ist in ihrem Leben seit dem 24. Februar nichts mehr. Da begann der Krieg in der Ukraine. Bozhena (Aussprache: Boschena mit weichem sch-Laut) kommt aus Kiew, wo sie mit ihren Eltern lebt. Oder genauer gesagt: lebte. Seit zwei Monaten ist das ukrainische Mädchen in Kassel zuhause.

Ihre Patentante Irina Gil hat sie aufgenommen. „Mir ist wichtig, dass das Kind in Sicherheit ist“, sagt die 58-Jährige, die in Bettenhausen lebt. Ihr Ex-Mann war Ukrainer – so kam es zur Freundschaft mit Familie Krisanova in Kiew. Irina Gil selbst stammt aus Kasachstan und kam vor 30 Jahren nach Deutschland. Mit Bozhena unterhält sie sich auf Russisch – und jeden Tag ein bissschen mehr auf Deutsch.

Bozhena war schon oft zu Besuch in Kassel, auch schon allein. „Meine Tante ist lieb, cool und so lustig“, schwärmt sie auf Englisch. Seit dem 23. März ist sie wieder in Kassel, doch diesmal kann sie den Besuch und die gemeinsamen Ausflüge und Unternehmungen nicht genießen wie sonst.

Sie sei dankbar, dass sie in Sicherheit sei, sagt die 14-Jährige. Und Deutschland und Kassel seien wirklich toll, betont sie fast entschuldigend. „Aber ich vermisse meine Eltern sehr.“ Zum Glück seien die inzwischen in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine, wo die Situation noch halbwegs ruhig sei. Jeden Tag wünschen sie Bozhena am Handy einen guten Morgen und eine gute Nacht und telefonieren auch zwischendurch viel. In großer Sorge ist Bozhena vor allem um ihren erwachsenen Bruder, der im Krieg kämpfen muss.

Vier Tage waren ihre Eltern im März noch mit ihr in Kassel geblieben – auch um die Formalitäten zu regeln, unter anderem mit dem Jugendamt. Das habe super geklappt, sagt Patentante Irina Gil. Als die Eltern abgereist waren, sei „eine sehr nette Frau“ vom Jugendamt da gewesen, um sich zu überzeugen, dass Bozhena gut aufgehoben ist.

Seither hat Irina Gil, die selbst zwei erwachsene Kinder hat, wieder eine Tochter im Alltag. Die 58-jährige, die eine Änderungsschneiderei in der Unterneustadt betreibt, kocht abends vor, damit Bozhena nach der Schule etwas Warmes zu essen hat. Leider habe sie kein eigenes Zimmer für ihr Patenkind, bedauert die Kasselerin. So teilt sie sich das Doppelbett mit Bozhena. In dem großzügigen Wohnraum mit offener Küche steht jetzt ein Schreibtisch, an dem die Schülerin arbeiten kann.

Bozhena besucht die 8. Klasse des Goethegymnasiums, dort hat sie auch schon Freunde gefunden. Nach Schulschluss macht sie neben den hiesigen Hausaufgaben noch die Schularbeiten für ihre ukrainische Schule. Dort steht nächstes Jahr der Abschluss bevor. Den will Bozhena auf jeden Fall schaffen.

„Sie ist nur am Lernen“, sagt Irina Gil und zuckt die Achseln. Manchmal muss sie ihr Patenkind regelrecht drängen, mal eine Pause zu machen. Bozhena sei sehr gewissenhaft, helfe auch im Haushalt mit und räume auf, ist die Patentante voll des Lobes. „Es gibt keine Probleme“, sagt sie. Meist sei Bozhena fröhlich. Aber manchmal werde sie auch ganz still. „Wenn sie allein ist, weint sie auch – aber sie sagt es mir nicht“, erzählt die Patentante. Bozhena ist es wichtig, dass sich niemand Sorgen um sie machen muss – weder ihre Patentante, noch die Eltern in der Ukraine. „Ich möchte, dass sie stolz auf mich sind.“ Deshalb will sie gute Noten schreiben, schnell Deutsch lernen und niemanden mit Heimweh oder anderen Sorgen belasten, wie sie unter vier Augen verrät.

Sie wisse, dass sie Glück habe, sagt die 14-Jährige. Manchmal habe sie deshalb ein schlechtes Gewissen. „Kein Kind aus der Ukraine sollte diesen Krieg erleben müssen.“ Das sieht ihre Patentante genauso. „Ich stehe nicht für Russland“, betont die gebürtige Kasachin, die mit ihren russischen Verwandten das Thema Ukraine ausspart. „Putin ist für mich ein Mörder.“ Für Irina Gil steht fest: Sie ist für ihr Patenkind da, solange das nötig ist. (Katja Rudolph)

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