Polizei erkannte Schlaganfall nicht: Kasselerin stundenlang festgehalten

Kassel. Monika Harmes-Lipera hat einen wahren Alptraum erlebt: Die 70-Jährige erlitt in der Tram einen Schlaganfall - und wurde dennoch stundenlang von der Polizei festgehalten.
Die 70-jährige Monika Harmes-Lipera hat einen Albtraum erlebt – und noch nicht überwunden. Mit den Folgen, schweren gesundheitlichen Schäden, wird sie noch lange zu tun haben. Im vergangenen Juni erlitt die Frau am helllichten Tag und mitten in Kassel einen Schlaganfall. Sie konnte nicht mehr sprechen, die Finger nicht bewegen, also auch nicht schreiben, oder sich auf andere Weise verständlich machen. Erst sieben Stunden später erhielt sie medizinische Hilfe. Und das, obwohl sie sich zuvor mehrere Stunden lang in polizeilicher Obhut befand.
"Das war unterlassene Hilfeleistung mit schweren gesundheitlichen Folgen", sagt Harmes-Lipera, die 30 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet hat. Es müsse doch bekannt sein, dass bei einem Schlaganfall "jede Minute der Verzögerung schwere Schäden für die Betroffenen nach sich ziehen" kann.
Doch das Ermittlungsverfahren gegen neun Polizisten aus Baunatal und Kassel wegen des Verdachts der unterlassenen Hilfeleistung und der fahrlässigen Körperverletzung ist Ende 2017 eingestellt worden. Das wollten Monika Harmes-Lipera und ihre Tochter nicht unwidersprochen lassen. Aber ihre Beschwerde gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft erhielt eine Abfuhr und wurde jetzt von der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt verworfen: Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist nicht zu beanstanden“, schreibt Oberstaatsanwältin Lindberg: „Der von mir eingehend überprüfte angefochtene Bescheid entspricht der Sach- und Rechtslage.“
Harmes-Lipera muss das Sprechen neu lernen
„Ich will Gerechtigkeit“, sagt Monika Harmes-Lipera, die sich mühsam und nur sehr schwer verbal verständlich machen kann. Zeit- und kraftaufwendig besucht sie seit Monaten die Logopädiepraxis von Beate Petzoldt, wo sie lernt, wieder zu sprechen, und sich regeneriert.
Die Vorkommnisse des „schicksalhaften Tages“, wie sie sagt, hat Harmes-Lipera aufgeschrieben: Am 23. Juni fuhr sie gegen 10 Uhr mit der Tram zum Bahnhof Wilhelmshöhe. Beim Umsteigen am Rathaus muss sich der Schlaganfall bereits ereignet haben: Zwei Frauen halfen ihr, indem sie ihr unter die Arme griffen, beim Aus- und Einsteigen. Harmes-Lipera hatte die Orientierung verloren, war in ihrer Motorik eingeschränkt, konnte nicht mehr sprechen. Wie sich herausstellte, ließ sie Gepäck und Handtasche in der Tram zurück. Passanten übergaben die hilflose Frau am Bahnhof Wilhelmshöhe der Bundespolizei. Die Odyssee war damit aber nicht beendet.
Kollegen des zuständigen Reviers Süd-West holten die Rentnerin von der Dienststelle der Bundespolizei ab und brachten sie nach Baunatal. „Dort wurde ich fünf Stunden lang in einem geschlossenen Raum festgehalten“, schreibt Harmes-Lipera. Derweil versuchten die Polizisten vergeblich, näheres über die Identität der Frau herauszubekommen. Gegen 16 Uhr habe man sie nach Kassel gefahren.
Als sie in der Nähe des Wohnorts ihrer Tochter waren, konnte sie den Beamten durch Handzeichen zu verstehen geben, dass sie dorthin gebracht werden möchte. Die Tochter rief sofort den Notarzt, der brachte ihre Mutter ins Krankenhaus.
Bei Frau Harmes-Lipera wäre die Schädigung des Sprachzentrums möglicherweise nicht so gravierend ausgefallen, wäre sie früher behandelt worden, sagt Beate Petzoldt. Hinzu komme, dass sie panisch war, weil sie nicht wusste, was los war, man sie eingesperrt hatte und ihr keiner half. Das habe wahrscheinlich zu einer Verschlimmerung geführt.
Es sei ihr unverständlich, dass „eindeutige Symptome“, wie der Verlust der Sprache und der Orientierung sowie der Kräfteverlust in den Händen, von keinem der vielen Polizisten beachtet worden seien, sagt Harmes-Lipera. Mit ihrem Protest möchte sie „eine Verbesserung der Aufmerksamkeit von Polizisten im täglichen Dienst“ bewirken. Bei Zweifeln bezüglich des Gesundheitszustands einer aufgegriffenen Person, müsse „grundsätzlich ein Rettungsdienst hinzugezogen werden, um einen medizinischen Notfall auszuschließen oder zu bestätigen“.
Das sagt die Polizei:

"Den Beamten konnte zweifellos kein Fehlverhalten trotz des bedauerlichen Vorfalls vorgeworfen werden, sodass es zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Kassel kam", sagt Erster Polizeihauptkommissar Jürgen Wolf. Eine Passantin habe Frau Harmes-Lipera der Bundespolizei übergeben, weil sie davon ausging, dass diese "geistig verwirrt" sei. Die Passantin habe unter anderem berichtet, dass die Person "fast vor eine Straßenbahn gelaufen sei".
In der Folge kümmerten sich Beamte des Polizeireviers Süd-West und versuchten durch Abfragen bei Senioren- und Pflegeheimen, Abgleich mit Vermisstenfällen etc. die Herkunft der Frau zu klären. „Zu diesem Zeitpunkt entstand für alle Beteiligten der Eindruck, dass es sich aufgrund des Gesamtverhaltens um eine offenbar geistig verwirrte Frau handelte, die keinerlei Gepäck oder Ausweispapiere dabei hatte. „Zudem lagen augenscheinlich auch keine typischen Symptome für einen Schlaganfall vor, wie motorische Einschränkungen oder Ähnliches“, so Wolf.
Nachdem alle Abfragen negativ verlaufen waren, organisierten die Beamten eine vorübergehende Unterbringung in einer Hausgemeinschaft in Kassel. „Auf dem Weg dorthin konnte Frau Harmes-Lipera zufällig den Beamten durch Zeichen den Weg zu ihrer Tochter zeigen, wo dann durch die Tochter eine andere Einschätzung des Zustands ihrer Mutter erfolgte und der Rettungsdienst verständigt wurde.
Das sagt die Logopädin:

"Bei Schlaganfall-Symptomen ist der wichtigste Faktor die Zeit. Jede Minute zählt", sagt Logopädin Beate Petzoldt, die außerdem im Landesvorstand des Deutschen Bundesverbands für Logopädie ist. In ihrer Praxis wird Monika Harmes-Lipera behandelt. Beate Petzoldt sagt: „Man muss so schnell wie möglich eingreifen, dann können schwerwiegende Schäden in vielen Fällen verhindert werden.“
Helfer sollten das immer im Hinterkopf haben und sofort einen Notarzt rufen. Es gibt allerdings viele Formen, die ein Schlaganfall haben kann. Eine Lähmung muss sich nicht auf Arme und Beine beschränken. Einige der betroffenen Menschen können nicht sprechen. Es kann auch vorkommen, dass sich die Symptome während des Anfalls nur langsam verstärken.
In jedem Fall gilt: Je früher die medizinische Hilfe ansetzt, desto besser. Ganz wichtig ist eine schnelle medizinische Versorgung der vom Schlaganfall betroffenen Menschen. Je eher Hilfe geleistet wird, umso größer sind die Chancen des Patienten, sagt Beate Petzoldt. Kommt die Hilfe verzögert oder erst sehr spät, besteht die Gefahr, dass die Schädigungen stärker ausfallen und schwerer wieder zu behandeln sind, insbesondere die Sprachschwierigkeiten. Die Patienten haben dann viel größere Mühe, die Sprache wieder zu erlernen. Auch die Persönlichkeit kann sich bei manchen Patienten nach einem Schlaganfall verändern.
So erkennt man einen Schlaganfall:
Bei einem Schlaganfall wird ein Teil des Gehirns plötzlich nicht mehr mit Blut versorgt; es erhält dadurch keinen Sauerstoff. Als Folge drohen Nervenzellen, im betroffenen Gebiet abzusterben. Mit Hilfe des FAST-Tests ("face, arms, speech, time") können auch medizinische Laien einen Schlaganfall schnell feststellen. In Kassel hat erst vor kurzem eine weitere Spezialstation für Schalganfall-Patienten eröffnet.
- Gesicht: Bitten Sie die Person zu lächeln. Ist das Gesicht dabei einseitig verzogen? Hängt ein Mundwinkel herab? Das deutet auf eine halbseitige Lähmung hin.
- Arme: Bitten Sie die Person, beide Arme waagrecht nach vorne zu strecken und dabei die Handflächen nach oben zu drehen. Bei einer Lähmung können nicht beide Arme gehoben werden, sie sinken oder drehen sich.
- Sprache: Lassen Sie die Person einen einfachen Satz nachsprechen. Ist sie dazu nicht in der Lage oder klingt die Stimme verwaschen, liegt vermutlich eine Sprachstörung vor.
- Zeit: Deutet der Test auf einen Schlaganfall hin, wählen Sie sofort den Notruf 112 und schildern Sie die Symptome. Es geht um jede Minute, der Patient muss schnellstens in ein Krankenhaus gebracht werden.