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Freier in Kassel immer rücksichtsloser - Die meisten fordern Sex ohne Kondom

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Von: Christina Hein

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Seit Corona sind Freier immer rücksichtsloser. Weil sie Verkehr ohne Kondom einfordern, bringen sie Prostituierte und sich in Gefahr.

Kassel – Sozialarbeiterinnen, die in Kassel mit Prostituierten arbeiten, sind alarmiert und besorgt: „Die Frauen, die wir aufsuchen, erzählen uns, dass die Freier fast ausnahmslos Sex ohne Kondom verlangen“, sagt Ayshe Ismailova von „Sichtbar“, der Informations- und Beratungsstelle für Prostituierte des Trägervereins „Frauen informieren Frauen“.

Gleichzeitig stellen sie und ihre Kollegin Gabi Kubik im Milieu einen starken Anstieg der Abtreibungen fest. Im vergangenen Jahr haben die Sozialarbeiterinnen zwölf, im Jahr davor elf Frauen zunächst in die Humanitäre Sprechstunde und anschließend für den Abbruch in die Kliniken begleitet. Davor waren es „nur“ vier, fünf von ihnen begleitete Abtreibungen im Jahr. Nach Schätzungen der Fif-Frauen fahren ein Drittel aller ungewollt Schwangeren zur Abtreibung in ihre Heimatländer, ein weiteres Drittel versucht sich anders zu helfen. Die Dunkelziffer sei hoch, so Kubik. „Die bekannten Abbrüche sind nur die Spitze des Eisbergs.“

Kassel: Folgen der Corona-Pandemie erschweren Arbeit von Sexarbeiterinnen

Kubik hat eine Erklärung: Zu Coronazeiten, als die Laufhäuser, die Arbeitsstätten der Frauen, geschlossen waren und ihnen die Ausübung von Prostitution verboten war, haben sich die Frauen in ihrer existenziellen Not, um etwas Geld zu verdienen, auf Unübliches eingelassen – auch Praktiken ohne Kondom. Seitdem forderten die Freier das weiterhin ein. Sie seien extrem rücksichtslos. In Chat-Foren informierten sie sich abfällig, unter anderem wie sie die Preise drücken können.

In Kassel sehen sich Sexarbeiterinnen seit dem Ende der Corona-Pandemie immer größeren Gefahren ausgesetzt.
In Kassel sehen sich Sexarbeiterinnen seit dem Ende der Corona-Pandemie immer größeren Gefahren ausgesetzt. (Symbolfoto) © Hauke-Christian Dittrich/dpa

Corona und die Schließung der Laufhäuser habe auch dazu geführt, dass Prostituierte zum Teil von Zuhältern dezentral in Privatwohnungen – häufig außerhalb von Kassel – untergebracht wurden. Viele seien bis heute nicht zurückgekehrt. „Das erschwert unsere Arbeit sehr“, so Kubik. Bei wechselnden Personen gehen die Sichtbar-Frauen im Raum Kassel von 200 Sexarbeiterinnen, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, aus.

Erhöhte Nachfrage nach Testangeboten in Kassel

Parallel zur Situation im Milieu stellt die Aidshilfe Kassel eine erhöhte Nachfrage ihres anonymen Angebots von Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten fest. „Wir verzeichnen eine enorme Steigerungsrate“, so die Geschäftsführerin der Aidshilfe, Ira Belzer. Im Jahr 2022 wurden in den ersten elf Wochen 23 HIV-Testberatungen und 19 Abstrichtests durchgeführt. „In diesem Jahr haben wir in demselben Zeitraum die tagesaktuellen Zahlen von 79 HIV-Testberatungen und 60 Abstrichtests.“

„Die Nachfrage nach unserem Testangebot für sexuell übertragbare Krankheiten geht seit vergangenem Sommer regelrecht durch die Decke und hat sich mehr als verdoppelt“, sagt Ira Belzer. Termine für die Tests gibt es nach Absprache. „Momentan kann es zu Wartezeiten kommen“, so Belzer. „Grundsätzlich freuen wir uns über die Nachfrage unserer Angebote, denn die gesundheitliche Vorsorge ist ja unser Anliegen. Aber personell kommen wir mit dieser Entwicklung auch an unsere Grenzen.“ Die Tests kosten die Klienten zwischen 0 und 18 Euro.

Angebot ist anonym

Das Angebot der Aidshilfe ist anonym und vertraulich. Im Angebot sind auch Beratungsgespräche. „Aufgrund der Anonymität kann jede Person so viel von sich preisgeben, wie sie möchte. Die Anzahl der Freier, die das Testangebot in Anspruch nehmen, können wir daher nicht exakt angeben“, so Ira Belzer. „Sichtbar“, die seit 25 Jahren in Kassel arbeitende Informations- und Beratungsstelle für Prostituierte, und die Aids-Hilfe arbeiten in einer Kooperation zusammen, finanziert durch den Landkreis Kassel.

Ira Belzer von der Aidshilfe Kassel (von links) sowie Gabi Kubik und Ayshe Ismailova vom Verein Frauen informieren Frauen arbeiten in einer Kooperation.
Stehen für Beratung und Hilfe bereit: Ira Belzer von der Aidshilfe Kassel (von links) sowie Gabi Kubik und Ayshe Ismailova vom Verein Frauen informieren Frauen arbeiten in einer Kooperation zusammen. © Christina Hein

Die Zahl der Infektionen steige auch bei den Prostituierten, sagt Ayshe Ismailova, muttersprachliche Begleiterin von „Sichtbar“. Ismailova, die soziale Arbeit studiert, begleitet die Prostituierten als Übersetzerin regelmäßig in die Humanitäre Sprechstunde zur Gesundheitsversorgung, ins Ordnungs- und Gesundheitsamt zur Ausstellung des sogenannten „Hurenpasses“, den die Frauen zur Ausübung von Prostitution benötigen, und zunehmend auch in Abtreibungskliniken.

Kassel: Freier fordern Sex ohne Kondom

Denn der neuerlich zunehmende Druck durch die Freier, ohne Kondom zu arbeiten, führt zu einem Anstieg von ungewollten Schwangerschaften. „Frauen erzählen uns immer wieder, dass die Männer, die sie aufsuchen, fast ausnahmslos Sex ohne Kondom verlangen“, sagt Gabi Kubik, langjährige Mitarbeiterin von „Sichtbar“. Der Wunsch, sich selbst und andere zu schützen und auf risikoreiche Sexualpraktiken zu verzichten, sei nur noch selten vorhanden. Wenn sich die Frauen nicht darauf einließen, hätten sie keine Einnahmen mehr, weil der Kunde dann von anderen Prostituierten bedient würde.

„In den Kasseler Prostitutionsstätten arbeiten überwiegend Armutsprostituierte“, sagt dazu Gabi Kubik. Je ärmer die Frauen, desto weniger haben sie den Freiern entgegenzusetzen. „Je fataler die Situation, desto mehr nutzen viele Männer das aus.“ Selbst Frauen, die risikoreiche Praktiken vor der Pandemie abgelehnt hatten, würden diese Forderungen aus finanzieller Not teilweise bedienen. Daran ändere auch die mit dem Prostituiertenschutzgesetz 2017 eingeführte Kondompflicht nichts, „auf die in einzelnen Häusern zwar hingewiesen wird, die sich aber letztlich jeder Kontrolle entzieht“.

Prostitution aus finanzieller Not

Grundsätzlich stellen die Sozialarbeiterinnen eine gestiegene Rücksichtslosigkeit der Freier fest. Sie spiegele sich auch in der Zunahme von gewalttätigen Übergriffen wider und darin, wie sich die Freier – zum Teil menschenverachtend – in den Chats austauschten. „Die Pandemie hat die Macht und Zügellosigkeit der Freier verstärkt“, so Kubik. Sie erklärt: Bei den Prostituierten handele es sich größtenteils um Frauen aus Südosteuropa, „für die die Prostitutionstätigkeit in einem anderen Land oftmals die einzige Möglichkeit ist, um ihren Kindern und Familien ein Überleben zu sichern“.

Finanzielle Not, geringe Bildung, Analphabetismus, mangelnde oder keine Kenntnisse der deutschen Sprache machten sie leicht zu Opfern von Ausbeutung. „Sie werden nicht selten von Zuhältern, die sie für sich arbeiten lassen, unter miserablen Bedingungen isoliert gehalten.“ Gesundheitsfürsorge sei zu einem Privileg geworden, das sich die Frauen nicht mehr leisten könnten.„Die gesundheitlichen Risiken, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken und immer wieder ungewollt schwanger zu werden, treten vor der Versorgung ihrer Kinder in den Heimatländern in den Hintergrund“, sagt Gabi Kubik.

„Sichtbar“ nennt sich ein Angebot der aufsuchenden Sozialarbeit des Kasseler Vereins „Frauen informieren Frauen“. Seit 25 Jahren richtet es sich in Form von Beratung und Information an Frauen, die in der Prostitution tätig sind oder waren. Sozialarbeiterinnen besuchen regelmäßig die Arbeitsstätten der Frauen und versuchen, eine Atmosphäre von Akzeptanz herzustellen. Dringend benötigt werden Ressourcen für muttersprachliche Begleitung.

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