Schluss wegen Spotify: Warum ein Label-Mitarbeiter genug hat vom Musikgeschäft

Lutz Mastmeyer war Musiker, DJ, Musikjournalist und hat 30 Jahre für die legendäre Plattenfirma Glitterhouse gearbeitet. Mit 58 wagt er einen radikalen Neuanfang.
Kassel – Das Leben von Lutz Mastmeyer änderte sich, als Werner Reinke in seiner „Hitparade International“ 1977 „Sheena Is a Punk Rocker“ von den Ramones spielte. Punk-Rock-Songs liefen normalerweise nicht im Hessischen Rundfunk. Andere Sender gab es in Kassel nicht. Mastmeyers Freunde fuhren mit dem Auto aufs Hohe Gras, um dort die BBC zu empfangen, wenn der legendäre John Peel auflegte. Die Ramones jedenfalls machten dem Teenager Mastmeyer klar, „dass es in der Musik noch etwas anderes gab als das, was sonst im Radio lief“.
Von da an bestimmte die Musik sein Leben: Mastmeyer war DJ, Musiker, Plattenverkäufer, Musikjournalist und zuletzt 30 Jahre bei der Plattenfirma Glitterhouse in Beverungen beschäftigt. Das Label aus dem Dreiländereck zwischen Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen wird von Musik-Fans aus der ganzen Welt geschätzt, seitdem es in den Neunzigern US-Grunge-Bands wie Nirvana nach Europa gebracht hat. Doch mit 58 Jahren hört Mastmeyer dort auf und wagt einen radikalen Neuanfang.
Er hat die Branche gewechselt und arbeitet nun für den Technikspezialisten Eoda im Science Park. Das Start-up der Gründer Heiko Miertzsch und Oliver Bracht versucht, durch Datenanalysen etwa Unternehmen nachhaltiger zu machen. Auch Künstliche Intelligenz kommt dabei zum Einsatz. Für manche klingt das so revolutionär, wie es einst die Ramones waren. Für Mastmeyer ist es aber eine ganz andere Welt.
Seine alte Welt befindet sich seit Jahren im Krisenmodus, wie er sagt. Mit Kritikerlieblingen wie den Walkabouts, Scott Matthew und den Nerven hat sich Glitterhouse einen legendären Ruf erarbeitet. Das „Orange Blossom Special“, das die Mitarbeiter jährlich am Weserufer veranstalten, nannte der „Rolling Stone“ „das beste kleine Open-Air-Festival der Welt“. Mastmeyer findet: „Der Firma ist es immer wieder gelungen, sich zu erneuern, ohne dass sie ihre Wurzeln verleugnet hat. Es war eine permanente Revolution.“
Im Streaming-Zeitalter sind die Einnahmen jedoch stark zurückgegangen. „Wir kämpfen seit Jahren ums Überleben“, sagt Mastmeyer: „Den meisten anderen Indie-Labels geht es ähnlich.“
Für den aus Osterode im Harz stammenden Musik-Nerd endet damit eine Ära. Begonnen hatte sie nicht nur mit den Ramones im Radio, sondern auch mit einer Sicherheitsnadel im Ohr. Nach seinem Erweckungserlebnis wurde der junge Mastmeyer zum Punk. Er spielte Bass in Bands wie „Miss Ellie bei Nacht“, legte als DJ im Yello, dem New York und im Zierenberger Treibhaus auf. Er studierte Kunst bei documenta-Teilnehmer Harry Kramer sowie Geschichte und Englisch – alles ohne Abschluss. Nebenbei jobbte er auch als Rezensent beim Szene-Magazin „Vox“.
Von der Euphorie, die damals und auch nach der Wende in den Neunzigern in der Musikbranche herrschte, ist laut Mastmeyer nicht mehr viel übrig geblieben. „Viele machen nur noch Dienst nach Vorschrift, weil sie noch zehn Jahre rumkriegen müssen“, sagt der Vater zweier erwachsener Söhne.
Ganz anders sei es nun bei Eoda, wo er sich als Account Manager um Kundenkontakte kümmert, ähnlich, wie er früher bei Glitterhouse internationale Vertriebskontakte knüpfte: „Man hat das Gefühl, dass alle mit Feuer dabei sind.“ Dabei hat er viele Kollegen noch nicht persönlich kennengelernt. Man arbeitet vor allem aus dem Homeoffice.
Mastmeyer muss nun nicht mehr eine knappe Stunde mit dem Auto nach Beverungen fahren, sondern nur noch mit der Straßenbahn von seinem Zuhause in Wilhelmshöhe in die Nordstadt. Er wird also mehr Zeit haben für andere Dinge – etwa auch für den Sportverein Dynamo Windrad, dessen Präsident der Hobby-Fußballtorwart sieben Jahre lang war.
Durch Glitterhouse ist Mastmeyer viel in der Welt rumgekommen. Überall sagt er, Kassel sei die schönste Stadt der Welt. Anders als der Komiker Helge Schneider, der das im Kulturzelt auch schon mal behauptete, ehe er den Nebensatz „neben Mannheim“ nachschob, meint Mastmeyer das ernst: „Kassel ist ein idealer Kompromiss zwischen einer Großstadt mit vernünftigen Lebenshaltungskosten und abwechslungsreicher Natur in unmittelbarer Reichweite.“ (Matthias Lohr)