Richter Ahnungslos: Eine Bilanz nach fünf Jahren als Schöffe

Unser Autor war fünf Jahre Schöffe am Amtsgericht. Als Laienrichter hat er gelernt, dass manche ungeschoren davonkommen. Trotzdem kann er das Amt jedem empfehlen.
In einem meiner letzten Fälle als Schöffe am Kasseler Amtsgericht hätte ich beinahe einen Lachanfall bekommen. Es ging um einen Mann ohne festen Wohnsitz, der wegen Diebstahls angeklagt war. Er entschuldigte seine Tat so: Er habe nur einen Platz zum Schlafen gesucht, die Tür zum Büro habe offengestanden. Dort hätten diese Bier- und Weinflaschen gestanden, er hätte Durst gehabt. Danach sei er angeheitert gewesen. Darum habe er sich nichts gedacht, als er das Portemonnaie mit dem Geld liegen sah. Und das Smartphone daneben - er hätte nicht geglaubt, dass das jemand vermissen würde, wenn er es mitnähme.
Der Angeklagte beteuerte all dies so eindringlich, dass man ihm fast geglaubt hätte. Aber so komisch war es selten in den vergangenen fünf Jahren, in denen ich als Laienrichter tätig war. Als einer von jeweils zwei Schöffen habe ich mit einem Berufsrichter Zeugen vernommen, Gutachter angehört und Urteile gefällt. Dabei wusste ich bis dahin nicht sehr viel über das Rechtssystem. Ich war quasi Richter Ahnungslos. Genau das ist so gewollt vom Gesetzgeber.
Zum Ende seiner Amtszeit bekommt jeder Schöffe ein Dankesschreiben, in dem steht: "Sie haben uns dabei geholfen, auch solche Aspekte zu berücksichtigen, die Ihnen aufgrund Ihrer Lebens- und Berufserfahrung bedeutsam erscheinen und von uns als Berufsrichtern möglicherweise nicht hinreichend beachtet worden wären."
Die Schöffen sind für den gesunden Menschenverstand im Gericht verantwortlich. Für die Demokratie unseres Rechtsstaates ist das eine tolle Sache. Aber wie ist es in der Praxis als Schöffe?
Schöffen kennen die Akten nicht
Ich hatte mich beim Kasseler Amtsgericht beworben, nachdem mir im Traum der Bundespräsident erschienen war und sagte: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst." Gibt es nicht genügend Freiwillige, schlagen Städte und Gemeinden Bürger vor. Die werden dann zwangsverpflichtet.
Ein Schöffe nimmt maximal an zwölf Verhandlungen pro Jahr teil. Von der Arbeit wird er freigestellt. Was ihn im Gerichtssaal erwartet, erfährt er erst dort. Jeder Schöffe soll möglichst unvoreingenommen an die Sache herangehen. Die Akten kennt nur der Berufsrichter.
Spannend sind die nicht unbedingt. Am Amtsgericht geht es nicht um Mord- und Totschlag, sondern meist um Betrug sowie kleinere Gewaltdelikte. Einer meiner ersten Fälle war ein Junkie-Pärchen, das immer wieder geringere Geldbeträge stahl, um an neuen Stoff zu kommen. Selbst in einem Pflegeheim hatten sie zugeschlagen.
Auch Jan Böhmermann war Schöffe
Auch wenn die beiden Schöffen nur Laien sind - sie können Fragen stellen und im Zweifel den Berufsrichter sogar überstimmen. In meiner Amtszeit kam das nicht vor. Am Anfang dachte ich, dass manche Richter ganz schon gnadenlos urteilen. Manchmal wäre ich für ein milderes Urteil gewesen - und wenn es nur um die Höhe der Geldstrafe ging. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass viele Angeklagte alte Bekannte bei Polizei und Richtern waren. In manchen Fällen war das Vorstrafenregister länger als die Anklageschrift. Und weil die Justiz seit Jahren chronisch überlastet ist, hatten manche nach dem Delikt, um den es hier ging, längst schon neue Straftaten begangen.
Einmal saß eine Gruppe junger Männer mit arabischem Migrationshintergrund auf der Anklagebank. Sie hatten sich in einer Moschee kennengelernt, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, und sollten in großem Stil teure Autofelgen gestohlen haben. Im Gericht nahm der Hauptbelastungszeuge seine Aussage, die er bei der Polizei gemacht hatte, wieder zurück. Die Männer auf der Anklagebank lachten danach wie Mafia-Boss Tony Soprano. Sie wurden freigesprochen.
Ich habe in den vergangenen fünf Jahren gelernt, dass Recht nicht unbedingt Gerechtigkeit bedeutet. Und dass es sehr anstrengend sein kann, zu einem Urteil zu kommen. Einmal sah ich, wie nach der x-ten drögen Zeugenvernehmung der Gerichtsreporter eines Journalistenbüros auf der Zuschauerbank eingenickt war. Ich konnte ihn gut verstehen. Schöffe zu sein, ist nicht halb so aufregend wie ein Gerichtsthriller, es ist zeitaufwendig und schlecht bezahlt, aber ich kann es jedem nur empfehlen.
Schöffe: Vergütung, Freistellung, Arbeitgeber
Anforderungen: Ein Schöffe muss deutscher Staatsbürger sein, die deutsche Sprache beherrschen und zwischen 25 und 69 Jahren alte sein. Zum Zeitpunkt der Aufstellung der Listen muss er in der jeweiligen Stadt oder Gemeinde leben. Er darf zu keiner Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt worden sein. Es darf auch kein Ermittlungsverfahren gegen ihn laufen.
Entschädigung: Schöffen erhalten sechs Euro pro Stunde. Zudem zahlt die Justizkasse einen Verdienstausfall.
Kassel: In Kassel sind in der gerade begonnenen Wahlperiode, die bis 2024 dauert, 280 Schöffen an Land- und Amtsgericht im Einsatz. Dazu kommen 110 Jugendschöffen beim Amts- und 70 beim Landgericht. Obwohl es an vielen Gerichten an Bewerbern mangelt, gab es in Kassel diesmal keine Probleme, die Posten zu besetzen, wie Pressesprecher Philipp Kleinherne sagt.
Bewerbung: Wer sich auf eine Liste für die nächste Amtsperiode setzen lassen möchte, die 2024 beginnt, kann sich unter verwaltung@ag-kassel.justiz.hessen.de bewerben. Infos unter www.schoeffenwahl.de.
Sonstiges: Der bekanntes Schöffe ist Jan Böhmermann. Der Satiriker war als ehrenamtlicher Richter am Amtsgericht Köln tätig.