Seit der Kaiserzeit am Altmarkt: Kasseler Traditionsfirma wird 140 Jahre alt

Die Firma Tapeten-Grisel hat die Kaiserzeit, zwei Weltkriege und das Wirtschaftswunder überstanden. Nach 140 Jahren fehlt es aber an Nachfolgern, der 75-jährige Chef macht einstweilen weiter.
Kassel – Ob die 150 noch voll werden? Hans Jochen Grisel macht jedenfalls immer weiter in seinem Traditionsgeschäft Tapeten-Grisel nahe dem Altmarkt, das Kasseler Kunden seit 140 Jahren mit textilen Heimdekorationen, Gardinen und Bodenbelägen versorgt. Und, wie der Name sagt, auch mit Tapeten.
Die aber sind laut dem Inhaber bloß noch ein Nischengeschäft. Überhaupt hat sich durch die Zeiten vieles verändert. Nur diese Konstanten sind geblieben: Wenn alteingesessene Kasseler Familien ihre Geschäftsräume und Privatwohnungen neu ausstatten, gehen sie seit Generationen zu Grisel an die Brüderstraße – was der zweite Fixpunkt ist: Seit der Kaiserzeit, über zwei Weltkriege, die Zerstörung Kassels und das Wirtschaftswunder hinweg ist die Firma ihrem Standort treu geblieben.

Dies war viele Jahre lang das Sattlersche Haus gewesen, eines der imposantesten Fachwerkbauten des alten Kassel. Firmengründer Richard Paul Grisel hatte dort 1883 ein Geschäft für Tapeten, Farben und Polsterwaren eröffnet. Mit Tapeten kannte Grisel sich schon aus: Sein Vater war, gemeinsam mit dem Tapetenfabrikanten Johann Christian Arnold, Inhaber der Papierfabrik in Kaufungen. In der Kasseler Altstadt verkaufte Richard Paul Grisel den Wandschmuck von der Rolle und betrieb mit Tapeten auch einen Versandhandel.
Der Sohn des Gründers, Otto Grisel, musste 1943 die Zerstörung seiner Firma und der gesamten umliegenden Altstadt miterleben. In der Nachbarschaft handelte er in den letzten Kriegsjahren mit Verdunklungsrollos. 1955 baute Otto Grisel auf dem Grundstück an der Brüderstraße das zweigeschossige Geschäftshaus, in dem auch sein Neffe Hans Grisel und dessen Frau Waltraud tätig waren.
In den folgenden Aufbaujahren florierte das Geschäft. Die großen Wohnungsbaugesellschaften ließen ihre Neubauten meist von Grisel mit Tapeten und Bodenbelägen ausstatten. Zeitweise betrieb die Firma auch einen Großhandel für über 80 Profi-Kunden aus dem Malerhandwerk. „Fachmärkte gab es damals ja noch nicht“, sagt Hans Jochen Grisel, der 1971 als Sohn von Hans und Waltraud Grisel in vierter Generation in den Familienbetrieb eingetreten ist.
Der heutige Inhaber, inzwischen 75 Jahre alt, will die Traditionsfirma noch so lange weiterführen, wie es die Gesundheit zulässt und ihm die Gestaltungs- und Beratungsarbeit noch Spaß macht. Grisel hat den Geschäftsbetrieb aufs Notwendige gestrafft, kommt mit zwei Mitarbeitern aus und hat sein eigenes Pensum auf halbe Arbeitstage reduziert. „Andere im gleichen Alter basteln an ihren Hobbys herum, ich verdiene sogar noch Geld“, scherzt Hans Jochen Grisel. Aber es ist auch ein wenig Wehmut dabei.

Denn schon seit Längerem zeichnet sich ab, dass es für das Traditionsgeschäft wohl keine Nachfolgeperspektive gibt. Die beiden Kinder haben sich längst anders orientiert. Der wesentliche Faktor ist aber, dass sich die langjährig gewachsenen und sehr persönlich geprägten Kundenbeziehungen von Tapeten-Grisel nicht ohne Weiteres auf neue Betreiber übertragen lassen.
Ein fester Stamm an Privatkunden aus Familientradition, dazu ein Dutzend namhafte Kasseler Unternehmen, die alles rund um Sicht- und Sonnenschutz bei Grisel machen lassen – das genügt momentan, um dem 140 Jahre alten Kasseler Betrieb ein gutes Auskommen und stabile Aufträge zu gewährleisten.