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Internationales Forscherteam entwickelt Online-Selbsthilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

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Von: Katja Rudolph

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Anastasiya Noha und Igor Asanov vom Hochschulforschungszentrum Incher der Uni Kassel präsentieren den ukrainischen Online-Selbsthilfekurs für Betroffene des Kriegs.
Für Hilfe braucht es nur eine Internetverbindung: Anastasiya Noha und Igor Asanov vom Hochschulforschungszentrum Incher der Uni Kassel präsentieren den ukrainischen Online-Selbsthilfekurs für Betroffene des Kriegs. © Katja Rudolph

Wie kann auch die Wissenschaft Hilfe für die Betroffenen des Kriegs in der Ukraine leisten? Das fragte sich ein internationales Forscherpaar aus Kassel. Nun haben sie ein Online-Training zur psychologischen Selbsthilfe entwickelt.

Kassel – Als im Februar vor einem Jahr der Krieg in der Ukraine ausbrach, war Anastasiya Noha zwar in Sicherheit. Die 26-Jährige, die Doktorandin an der Universität Kassel ist, machte sich aber große Sorgen um ihre Familie und die Menschen in ihrer Heimat. „Am schlimmsten war das Gefühl der Hilflosigkeit“, sagt die Ukrainerin, die vor vier Jahren für ein Masterstudium nach Kassel kam.

Am Fachgebiet Wirtschaftspolitik, Innovation und Entrepreneurship fand sie neben ihrer wissenschaftlichen Basis auch die große Liebe: Mit ihrem Verlobten und Kollegen Dr. Igor Asanov, der aus Leningrad stammt, hat sie auf akademischem Weg Hilfe für die Ukraine auf die Beine gestellt. In Zusammenarbeit mit Fachgebietsleiter Prof. Dr. Guido Bünstorf entwickelte das Forscherpaar am internationalen Hochschulforschungszentrum (Incher) einen Online--Kurs zur Selbsthilfe bei psychischen Belastungen und Stress. Nach einer Vorab-Studie ist das Training in ukrainischer Sprache seit wenigen Tagen nun kostenfrei im Netz verfügbar.

Der Online-Kurs basiert auf Materialien, die die Weltgesundheitsorganisation WHO schon seit mehreren Jahren in der Arbeit mit Flüchtlingen einsetzt. Die Wirksamkeit der Präsenzkurse mit menschlicher Anleitung ist belegt. Ob auch eine Online-Variante derselben Inhalte helfen kann, haben die Kasseler Wissenschaftler im vergangenen Sommer geprüft. „Man würde schließlich auch keine Tablette nehmen, die nicht getestet ist“, sagt Igor Asanov im auf Englisch geführten HNA-Gespräch. Mehr als 1100 Menschen aus der Ukraine, überwiegend Frauen, haben an der Studie teilgenommen. Viele von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt kriegsbedingt innerhalb der Ukraine oder ins europäische Ausland geflüchtet.

Die Voraberhebung zur psychischen Gesundheit der Testpersonen brachte erschreckende Ergebnisse: 81 Prozent waren demnach depressionsgefährdet, 57 Prozent litten unter schwerem psychischem Stress, wie die vorläufige Auswertung ergab. Besonders stark betroffen seien dabei Menschen, die geflüchtet sind, sagt Anastasiya Noha. „Die Menschen, die nicht gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen, hatten die geringsten Stresswerte, und das, obwohl auch sie um ihr Leben fürchten müssen.“

Als eine Art Erste Hilfe für die Seele liefert der neue Online-Kurs Basiswissen und Übungen, um die Folgen akuter psychischer Belastungen zu mildern. Anders als ein Präsenzkurs mit begrenzter Teilnehmerzahl sei das Angebot für alle Hilfesuchenden frei zugänglich, sofern ein Internetzugang vorhanden ist, betonen Noha und Asanov. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler haben sich bereits in mehreren Forschungsprojekten mit der Wirksamkeit von Online-Trainings beschäftigt, vor allem im schulischen Kontext.

Für die Online-Variante des WHO-Materials zur psychischen Selbsthilfe haben sie unter anderem cartoon-artige Videos zur Illustration erstellt und Erklär- und Anleitungstexte auf Ukrainisch einsprechen lassen. Wie es sich ergab, war ein Opernsänger aus Charkiw bei Anastasiya Nohas Familie in Lwiw untergekommen und übernahm den Sprecherpart. „Allein seine Stimme hat eine unglaublich beruhigende Wirkung“, sagt die 26-Jährige.

Der Kurs kann in etwa eineinhalb Stunden durchlaufen werden. Die praktischen Übungen – etwa, wie man aus negativen Gedankenkarussells aussteigen und sich wieder auf das Hier und Jetzt fokussieren kann – lassen sich nach Bedarf jederzeit wiederholen.

Die vorläufigen Ergebnisse der Studie zeigen, dass das Online-Training zu einer signifikanten Stressreduktion bei den Betroffenen führte, sagt Igor Asanov: Der positive Effekt sei etwa halb so groß wie beim Offline-Kurs. Generell erreichten Online-Formate eine geringere Wirksamkeit gegenüber Präsenz-Kursen. Auch die Verbindlichkeit zur Teilnahme sei häufig ein Problem. Bei großen Online-Plattformen blieben im Schnitt nur 20 Prozent der Teilnehmer bis zum Ende dabei. Hier wies die neue Ukraine-Selbsthilfe vergleichsweise hohe Werte auf: Von denjenigen, die den Kurs starteten, absolvierten ihn auch 50 Prozent komplett. „Das ist ein gutes Zeichen“, so Igor Asanov.

Am 11. Februar 2022, wenige Tage vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, hat sich das Paar verlobt. Der größte Wunsch der beiden ist nun, dass es bald Frieden in der Ukraine gibt. Bis dahin hoffen sie, mit ihrem Online-Kurs so vielen vom Krieg betroffenen Menschen wie möglich helfen zu können. (Katja Rudolph)

Link zum kostenfreien Online-Kurs auf Ukrainisch: sho4ukraine.com

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