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Interview zum Gedenktag: „Sie hat Hitler als Schweinehund bezeichnet“

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Von: Florian Hagemann

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Enkelin und Großmutter: Gabriele Lübke auf einer
Enkelin und Großmutter: Gabriele Lübke auf einer © montage mit Rosa Schillings. Fotomontage: Nadine Quast/NH

Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Er erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Die zentrale Veranstaltung Hessens findet in Kassel statt.

Kassel – Gabriele Lübcke wird heute in Kassel sein und bei der landesweiten Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus im Ständehaus aus ihrem Buch vorlesen, das sie über ihre Großmutter Rosa Schillings geschrieben hat. Es trägt den Titel „Ich bin ohne Sinnen gestorben“.

Rosa Schillings wurde 1899 in Würselen (Nordrhein-Westfalen) geboren. 1925 heiratete sie. Sie bekam zwei Kinder. 1927 übernahm ihr Mann die technische Leitung des Bergwerks auf der Insel Borneo in Südostasien. Rosa Schillings blieb zunächst bei ihrer pflegebedürftigen Mutter. Nach deren Tod reiste sie mit den Kindern 1929 ihrem Mann nach. Ein Jahr später allerdings gab es einen Aufstand im Bergwerk, ihr Mann wurde erstochen.

Rosa Schillings kehrte zurück nach Deutschland. Dort ereilte sie der nächste Schicksalsschlag: Ihre Tochter starb. Rosa Schillings begann, an Depressionen zu leiden. 1936 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen (Rheinland) eingewiesen. Fünf Jahre später wurde sie von den Nazis getötet: Ermordet in der Tötungsanstalt Hadamar.

Insgesamt sind im Nationalsozialismus rund 300 000 Menschen ermordet worden, weil sie psychisch erkrankt oder behindert waren. Allein dem Mordprogramm „Aktion T4“ fielen 70 000 Menschen zum Opfer. In Hadamar starben 15 000 Menschen.

Frau Lübke, Sie haben Ihre Großmutter nie persönlich kennengelernt. Wie nah sind Sie ihr trotzdem, nachdem Sie ein Buch über sie geschrieben haben?

Ich bin ihr sehr nah dadurch gekommen. Ich wusste zwar aus Erzählungen meines Vaters viel von ihr, allerdings nur bis 1936. Das war das Jahr, in dem sie in die Pflegeanstalt Galkhausen gekommen und sie von meinem Vater getrennt worden ist. Für mich war sie aber lange recht unnahbar. Das mag mit dem Bild von ihr zu tun haben, das auch auf dem Cover des Buches ist. Das hatte immer einen Ehrenplatz bei uns. Darauf sieht sie zwar unglaublich hübsch aus, sie wirkt aber eben unnahbar.

Und das hat sich nun geändert?

Ja, das begann schon auf der Beerdigung meines Vaters, als mir eine ältere Dame von meiner Großmutter aus jener Zeit erzählte, in der sie jünger gewesen ist. Diese alte Dame hat erzählt, wie gern meine Großmutter Hüte und Schmuck getragen hat. Da dachte ich: Ups, das habe ich also von meiner Großmutter geerbt. Außerdem hatte mir mein Vater noch einen Brief von meiner Großmutter an ihn hinterlassen, in dem die Mutterliebe extrem herauskam. Dadurch bin ich ihr nähergekommen. Und natürlich durch das Lesen ihrer Krankenakte – mit all ihren Äußerungen von ihr. Da habe ich erkannt, wie mutig sie gewesen ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Meine Großmutter hat Hitler als Schweinehund bezeichnet, der seine Leute mit Kraft durch Freude fängt. Ich kannte bis dahin das Wort Schweinehund nur durch meinen Vater, das er für Menschen verwendet hatte, die er zutiefst verachtet hat. Jetzt wusste ich, woher er dieses Wort hatte.

Wie sind Sie an die Krankenakte gekommen?

Als ich das erste Mal nach Hadamar gekommen bin, habe ich erfahren, dass noch 30 000 Akten von der Aktion T4 im Bundesarchiv sind. Und die Akte meiner Großmutter war in diesem Archivgut. Da ich die nächste überlebende Nachfahrin war, habe ich eine Kopie der Akte bekommen. Sie hat mir auf jeden Fall geholfen, eine Lücke in der Erinnerung an meine Großmutter zumindest teilweise zu schließen.

Hat Sie überrascht, wie mutig Ihre Großmutter gewesen ist?

Mein Vater hat ja immer aus Sicht eines Kindes über seine Mutter gesprochen. Er beschrieb sie als sehr selbstbewusst und so, dass sie nicht ins Klischee der nationalsozialistischen Frau passte. Sie ist mit zwei kleinen Kindern einmal um die halbe Welt gereist und war finanziell unabhängig – und das Ende der 1920er-Jahre. Das war extrem selten und spricht allein schon für ihren Mut. Aber von dem Mut, wie kritisch sie sich gegen das Naziregime geäußert hat, habe ich erst durch die Akte erfahren. Sie hat nicht nur Hitler als Schweinehund bezeichnet, sondern sie brachte zum Beispiel auch zum Ausdruck, dass den Kindern der Hass eingeimpft wird. Sie hat sich zudem gewehrt gegen Behandlungen in der Pflegeanstalt. Die Verpflegung etwa muss sehr schlecht gewesen sein. Meine Großmutter hat deshalb Essen auf den Rasen geworfen und gesagt: Hunden legt man solche Bissen nicht vor, ich lasse mich nicht zum Tier erniedrigen.

Wie qualvoll war für Sie das Lesen der Krankenakte – im Wissen, dass Ihre Großmutter am Ende von den Nazis ermordet worden ist?

Meine Gefühle waren sehr zwiegespalten. Ich hatte zum einen ein Gefühl der Trauer, dass meiner Großmutter so etwas passiert ist. Zum anderen kam das Gefühl der Wut auf, weil hier Menschen sich über andere Menschen gestellt haben. Das ist eigentlich unvorstellbar, auch wenn es selbst heute noch passiert. Darüber hinaus war ich auch stolz darauf, dass sich meine Großmutter gewehrt hat. Zudem kam ein gewisser Trotz auf nach dem Motto: Wir leben immer noch – und das schon in der vierten Generation nach Rosa.

Geht Ihre Forschung über das Leben Ihrer Großmutter jetzt eigentlich noch weiter, oder ist sie abgeschlossen?

Die geht schon noch weiter, aber mein primäres Ziel ist es, die Geschichte meiner Großmutter noch bekannter zu machen. Ich möchte in Schulen gehen, ihre Lebens- und Leidensgeschichte verbreiten, an der man die Gräueltaten der Nazis konkret festmachen kann. Ich möchte aber auch deutlich machen, dass ich zu meiner Großmutter stehe, die laut Krankenakte die Diagnose ,Paranoide Schizophrenie’ hatte. Viele Angehörige schweigen leider. Die Krankenmorde im Nationalsozialismus waren – und sind es manchmal heute noch – in vielen Familien ein Tabu-Thema. Erst seit einigen Jahren wird so langsam öffentlich darüber gesprochen.

Warum ist das so?

Weil man selbst nicht mit einer Erbkrankheit in Verbindung gebracht werden möchte. Einige haben sich aber nach dem Krieg schlicht auch geschämt, weil sie dem Verwandten nicht geholfen haben. Oft sind es aber auch Bedenken, entsprechende Akten über ihre Angehörigen überhaupt anzufordern. Viele wissen aber auch einfach nichts über das Schicksal ihrer Angehörigen, die im Krieg gestorben sind oder ermordet wurden.

Sie gehen offensiv mit dem Thema um. Heute sprechen Sie in Kassel. Fühlen Sie sich denn auch gehört?

Ich fühle mich gehört. Ich habe schon einige Vorträge gehalten – zum Beispiel auch in Hadamar – und viele positive Reaktionen bekommen. Deshalb möchte ich auch Mut machen, dass mehr über eigene Angehörige, die im Krieg ums Leben gekommen sind, recherchiert wird. Es lohnt sich, danach zu forschen. (Florian Hagemann)

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