Aufstieg von der vierten in die Bundesliga: Der Erfolg des Boule-Clubs Cassel

Völlig überraschend ist der Boule-Club Cassel in die Bundesliga aufgestiegen. Sein neues Quartier hat er an einem documenta-Standort bezogen.
Kassel – Am 18. April erhielten die Mitglieder des Boule-Clubs Cassel einen Anruf, über den sie nicht lange nachdenken mussten. Am anderen Ende meldete sich der Hessische Pétanque-Verband. Bonn, sagte die Stimme, habe sein Team aus der Bundesliga zurückgezogen, ihr könnt nachrücken. Und übrigens: „Der erste Bundesligaspieltag ist in fünf Tagen.“
Die Hälfte der zehnköpfigen Mannschaft war damals gerade im Osterurlaub. Doch nach einer Videokonferenz stand fest: Der Boule-Club Cassel wagt den Schritt, der der größte Erfolg der Vereinsgeschichte ist. Viele Erstligisten gibt es im Kasseler Sport nicht. Neben den Handballern der MT Melsungen sind lediglich die Bowler von Finale Kassel und der Ruderverein Cassel erstklassig.
Der zweite Bundesliga-Spieltag findet an diesem Wochenende in Ludwigshafen statt. In der 16 Teams umfassenden Klasse ist der Neuling derzeit Drittletzter. Sportlich sind die Nordhessen Außenseiter, aber ihre neue Trainingsstätte ist erstklassig. In der Hafenstraße 76 haben sie unter einer Remise ihr schickes Winterquartier eingerichtet. „Um das beneiden uns selbst Konkurrenten aus Bremen und Südhessen“, sagt Schorsch Erwig.
Den Platz werden bald auch viele documenta-Besucher kennenlernen. Denn die Lagerhalle nebenan ist Standort der Kunstschau. Auch Künstler werden in der Hafenstraße wohnen. Und in dem Unterstand, den die 26 Vereinsmitglieder mit viel Arbeit hergerichtet haben, wird nun eine ruhige Kugel geschoben.
So lautet ein Klischee über den französischen Volkssport, der eigentlich Pétanque heißt. Mario Hoebel hat ihn natürlich im Frankreich-Urlaub kennengelernt. Andere trafen sich schon 1987 an der Uni. Damals war auch die heutige Grünen-Landtagsabgeordnete Karin Müller dabei.
Zunächst spielten sie im auch heute noch bestehenden Verein Rumkugler, der in der Lokhalle in Rothenditmold zuhause ist. 2010 spaltete sich der Boule-Club ab, fing in der vierten Liga an, wurde voriges Jahr Hessenmeister und ist nun ganz oben angelangt. Die Vereinsmitglieder treffen sich an der Orangerie, im Bergpark und eben in ihrem Winterquartier in der Nähe der Fulda, das sie Kleiner Hafen genannt haben – so heißt auch ein Trainingsspiel.
Pétanque ist mehr als ein harmloser Zeitvertreib. In Ligen treten jeweils drei Spieler (Triplette) mit zwei Kugeln gegeneinander an. Es geht also nicht nur um die ideale Wurfbahn, sondern auch um Taktik und Psychologie. „Es ist wahnsinnig wichtig, wie man nonverbal miteinander agiert. Das ist unsere Stärke“, sagt Erwig. Die Vorsitzende Heike Marten berichtet von Turnieren, bei denen man 13 Stunden spielt: „Man muss sich unheimlich konzentrieren.“
Alle schätzen den egalitären Charakter des Spiels. Es ist egal, wie alt man ist und wie viel Geld man verdient. „Beim Boule gibt es keine sozialen Unterschiede. Man braucht nur einen Satz Kugeln. Und der hält ein Leben lang“, sagt Erwig.
Ganz billig wird die erste Bundesliga-Saison allerdings nicht. Sie wird wohl 12 000 Euro kosten. Zudem gibt es im Kleinen Hafen bislang kein Klo. Eine Trocken-Toilette soll entstehen. Denn das Kundenklo im Obi-Baumarkt nebenan ist keine Dauerlösung – vor allem nicht nach 20 Uhr und sonntags. (Matthias Lohr)