Neu in der Leitung des Kassel Institute: Andra Milcu will, dass Wissen auch wirkt

Sie ist die dritte im Leitungsteam des Kassel Institute: Andra-Ioana Horcea-Milcu ist neu als Nachhaltigkeitswissenschaftlerin an der Universität Kassel. Wir stellen Sie und ihre Forschung vor.
Kassel – Wenn es um das Thema Nachhaltigkeit geht, denkt man spontan vielleicht an Umweltschutz, Müllvermeidung oder Energieeffizienz. Andra-Ioana Horcea-Milcu denkt an Werte wie Freundlichkeit, Mitgefühl und Gerechtigkeit. Die 37-jährige Rumänin hat im März eine der vier Kernprofessuren des neuen Nachhaltigkeitszentrums der Universität Kassel angetreten.
Neben Forschung und Lehre in ihrem Fachgebiet „Cultures of Sustainability“ (Kulturen der Nachhaltigkeit) ist sie damit auch für den Aufbau der neuen interdisziplinären Forschungseinrichtung zuständig. Im „Kassel Institute“ wird zu Themen ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit entlang der 17 Ziele der Vereinten Nationen geforscht.
„Ich fühle mich hier am richtigen Ort“, sagt Andra Milcu im auf Englisch geführten HNA-Gespräch. Sie erlebe die Universität und ihre Mitarbeiterschaft als lebendig, freundlich und offen. Kassel sei unkonventioneller als viele alteingesessene Universitäten, so ihr Eindruck. „Hier hat man den Willen und den Mut, Neues auszuprobieren.“ Und um einen neuen, andersartigen Zugriff auf das Thema nachhaltige Entwicklung geht es ihr.
Milcu sieht Werte als wichtigen Hebel für die angestrebte Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Bislang werde das Thema Nachhaltigkeit in erster Linie als technisch-naturwissenschaftliche Herausforderung begriffen. „Aber immer mehr und immer besseres Wissen führt nicht zwangsläufig zu Veränderung.“ All die gesammelten und zweifellos wertvollen Erkenntnisse hätten bislang zu wenig bewirkt, um die globalen Krisen zu bewältigen, so die Nachhaltigkeitsforscherin.
„Wir müssen die Art, wie wir Wissen produzieren, neu denken“, sagt sie. Dazu könnten die Geisteswissenschaften einen wichtigen Beitrag leisten, ist Andra Milcu überzeugt, deren neue Professur am Institut für Philosophie angesiedelt ist. Damit Wissen eine breite Wirkung entfalte und zu einem veränderten Handeln führe, sei es wichtig, die Gesellschaft von Anfang an in wissenschaftliche Prozesse einzubinden – das fange bei der Formulierung von Forschungsfragen an.
Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit seien nicht nur Klimadaten, der Meeresspiegel und Abholzungsquoten relevant. Sondern auch Werte, Emotionen und Spiritualität, sagt Andra Milcu. Sie vermutet: „Wenn wir uns unsere eigenen Werte stärker bewusst machen, würden wir auch nachhaltigere Entscheidungen treffen.“ Dabei gehe es nicht etwa darum, Menschen über Gewissensappelle zu beeinflussen, betont sie: Sondern die innere Welt stärker zu berücksichtigen, „um Menschen zu ermächtigen bewusste, eigene Entscheidungen zu treffen“.
Aber bleibt angesichts der Klimakrise und anderer drängender Probleme die Zeit für einen solchen Bewusstseinswandel? „Das weiß ich nicht“, sagt die Nachhaltigkeitsforscherin. „Aber wenn man sich anguckt, wie unsere Welt heute funktioniert, halte ich es nicht für Zeitverschwendung, etwas Neues zu probieren.“ Ein konkreter Anwendungsbezug steht für sie dabei nicht im Mittelpunkt: „Wir rennen vor allem weg, was nicht greifbar und konkret ist“, sagt sie. Das sei Teil des Problems.
In einem von dem Europäischen Forschungsrat geförderten Projekt will Andra Milcu mit ihrem Team untersuchen, ob Menschen nachhaltigere Entscheidungen treffen, wenn sie bewusst ihre Werte reflektieren. Dazu ist eine Studie in mehreren südosteuropäischen Ländern geplant. Weil die 37-Jährige im August ihr erstes Kind erwartet, startet das Vorhaben erst im nächsten Jahr.
Für die gebürtige Bukaresterin war die Stadt Kassel, wo sie nun mit ihrem Mann am Jungfernkopf wohnt, zwar nicht Liebe auf den ersten Blick, wie sie zugibt. Aber die inneren Werte haben sie überzeugt: „Ich bin beeindruckt von der Freundlichkeit der Menschen hier.“ Übrigens: Freundlichkeit ist Andra Milcus persönlich wichtigster Wert. Es sieht aus, als wäre sie am richtigen Ort. (Katja Rudolph)