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50 Jahre Radikalenerlass: Kasselerin verlor ihre Stelle als Lehrerin

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Von: Christina Hein

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Silvia Gingold in den 1970er-Jahren auf einer Demonstration.
Protest gegen Berufsverbote: Silvia Gingold in den 1970er-Jahren auf einer Demonstration. © privat

In den 1970er-Jahren sorgte der „Radikalenerlass“ bei einer großen Zahl an politisch Engagierten im Staatsdienst für eine existenzielle Bedrohung. Er jährt sich zum 50. Mal.

Kassel. Eine von bundesweit 3,5 Millionen vom Verfassungsschutz überprüften Personen und 11.000 Menschen, denen gegenüber seinerzeit tatsächlich ein Berufsverbot ausgesprochen wurde, ist die Kasseler Lehrerin im Ruhestand, Silvia Gingold (74). Die Überprüfungen hatte zu 2200 Disziplinarverfahren, 1256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen geführt.

Silvia Gingold erinnert sich: Betroffen waren Kommunisten, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und Gewerkschafter. In Bayern traf es auch Sozialdemokraten.

Silvia Gingolds Eltern waren kommunistische Widerstandskämpfer und verfolgte NS-Gegner. Auch die Tochter war in jungen Jahren in die DKP eingetreten. Dass dieses politische Engagement einmal ein Felsbrocken auf ihrem beruflichen Weg als junge Französisch- und Sozialkundelehrerin sein könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Doch dann wurde es ernst: Nach vier Jahren Tätigkeit als Lehrerin im Schwalm-Eder-Kreis wurde Gingold 1975 aus dem Schuldienst entlassen. „Es gab Zweifel an meiner Verfassungstreue. Dabei habe ich nie etwas Illegales gemacht, sondern nur mein Grundrecht auf Meinungsfreiheit in Anspruch genommen“, sagt sie rückblickend: „.Es ist ja nicht verboten, für eine andere Gesellschaftsform zu sein.“

Silvia Gingold
Silvia Gingold © Christina Hein

Silvia Gingold engagierte sich politisch in der Friedensbewegung ebenso wie bei Veranstaltungen der DKP, von Gewerkschaften und antifaschistischen Gruppierungen. Vor allem die von ihrem Vater gegründete „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ stand beim Verfassungsschutz als „linksextremistisch beeinflusst“ unter Beobachtung – und mit ihr Silvia Gingold. Nach institutionellem Hin und Her bekam Silvia Gingold 1976 in Spangenberg doch wieder eine Anstellung als Lehrerin, allerdings ohne Hoffnung, je verbeamtet zu werden. Dass sie zu Unrecht kriminalisiert worden war, spürte sie nicht zuletzt daran, dass sie von nun an Schwierigkeiten hatte, eine Wohnung anzumieten.

Mit den Schatten des Radikalenerlasses hat sie noch zu kämpfen: „Es ist jetzt 50 Jahre her, dass ich zum ersten Mal mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einklagen musste“, sagt Silvia Gingold. Dass ich heute immer noch oder wieder unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehe, wegen meiner antifaschistischen und friedenspolitischen Aktivitäten, empfinde ich als Skandal.“

Sie hat sich einem bundesweiten Netzwerk vom Berufsverbot Betroffener angeschlossen und ebenso wie fünf weitere Betroffene in Kassel eine Petition auf Rehabilitierung und Entschädigung gestellt. Ich wünschte mir eine Entschuldigung für das begangene Unrecht“, sagt sie: „Es bestehen nach wie vor Gerichtsurteile, nach denen wir als Verfassungsfeinde gelten, nur aufgrund einer Prognose, dass wir uns staatsfeindlich verhalten könnten. Das ist unfassbar, wenn man bedenkt, dass in der Vergangenheit nicht wenige Nazifunktionäre zum Teil hohe Staatsämter bekleidet haben.“

Das ist der Radikalenerlass

Am 28. Januar 1972 hatte die Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt den Radikalenerlass beschlossen. Zur Abwehr von Verfassungsfeinden sollten „Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“ aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden. Jeder Fall wurde geprüft.

Die Folge waren Anfragen beim Verfassungsschutz vor jeder der Einstellung und zur Überprüfung bestehender Dienstverhältnisse. Ein Bewerber, der vermeintlich verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelte, wurde nicht eingestellt oder entlassen. Der Erlass wurde 1976 von SPD und FDP aufgekündigt. Seitdem geht jede Landesregierung eigene Wege. (Christina Hein)

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