Es erschüttert mich, die Ereignisse zu verfolgen. Wir haben im Lauf der Jahre auch persönliche Beziehungen zu unseren Kooperationspartnern aufgebaut. Es treibt mich wirklich um, wie es diesen Menschen jetzt geht. Insbesondere um eine frühere Kollegin, die in Kiew lebt, bin ich in großer Sorge. Und wenn man viele Orte, deren Zerstörung die Nachrichtenbilder zeigen, selbst kennt, hat man eine Vorstellung von den schrecklichen Bedingungen, unter denen die Menschen dort jetzt leiden. Direkt nach Putins Angriff haben meine frühere Mitarbeiterin Nicole Burghardt und ich eine Solidaritätsbekundung an eine Reihe ehemaliger Seminarteilnehmer eines internationalen Projekts in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol geschickt.
Gab es eine Rückmeldung?
Von der Kollegin aus der Ukraine haben wir noch nichts gehört. Aber eine russische Koordinatorin des letzten OWWZ-Projekts hat aus Woronesch geschrieben – dort, wo das russische Militär für den Angriff zusammengezogen wurde. Sie hat sich tief bestürzt gezeigt über den Krieg und ihre Scham zum Ausdruck gebracht über Russlands Vorgehen. Ihr Appell an alle europäischen Partner war, auf der Ebene der Wissenschaft bitte russische Kollegen nicht auszugrenzen. Das ist keine Einzelmeinung. Seit dem ersten Kriegstag haben bereits mehr als 7000 russische Wissenschaftler in einem öffentlichen Appell an Präsident Putin den Einmarsch in die Ukraine verurteilt. Das zeigt, dass ein Großteil der Wissenschaftsgemeinschaft der russischen Propaganda nicht glaubt.
Wie war bei dem Mariupol-Projekt die Zusammenarbeit mit Russen und Ukrainern?
Inhaltlich ging es um die Abwasserverschmutzung durch die Stahlindustrie, die in der Hafenstadt Mariupol eklatant waren. Die ersten gemeinsamen Workshops in Deutschland fanden 2016 statt, also bereits nach der russischen Besetzung der Krim. Das war schon etwas Besonderes, dass Vertreter beider Länder trotzdem an einem Tisch saßen. Auf die Frage, wie es ihnen damit gehe, sagte der russische Vertreter: Die Abwasserprobleme enden nicht an Grenzen, wir können sie nur gemeinsam lösen. Die Ansicht teilte die ukrainische Seite. Das heißt, auf der fachwissenschaftlichen Ebene bestand trotz der politischen Differenzen eine Verständigung. Auch in der aktuellen Situation müssen wir achtsam sein, genau zu differenzieren, und den Kontakt zu den russischen Partnern halten, die mit der Politik Putins nicht übereinstimmen.
Viele wissenschaftliche Kontakte zu Russland sind eingefroren, und Städtepartnerschaften ruhen – so auch die von Kassel mit Jaroslawl. Finden Sie das richtig?
Ja, auf offizieller politischer Ebene muss man ein deutliches Zeichen gegen den schrecklichen Angriffskrieg Russlands setzen oder den Partnern signalisieren, dass man erwartet, dass sie sich positionieren. Für alle inoffiziellen Ebenen sehe ich es aber anders. Im OWWZ haben wir stets nur die fachwissenschaftliche Zusammenarbeit und den kulturellen Austausch gesucht und nicht auf politischer Ebene agiert. Gerade jetzt dürfen wir nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken verfallen. Auch in Russland spüren die Menschen die Folgen des Krieges, viele sind familiär eng mit der Ukraine verflochten und schockiert von dem brutalen Vorgehen ihrer Armee. Meine Hoffnung ist, dass sich die Putin-Kritiker noch stärker artikulieren, vor allem im Internet. Auf der Straße ist dies ja kaum möglich.
In Ihrem 2018 veröffentlichten Buch über die deutsch-russischen Beziehungen sprachen Sie bereits von einem „neuen Kalten Krieg“ seit der Annexion der Krim. Haben Sie diese Eskalation kommen sehen?
Dass Putin so weit gehen würde, hat niemand erwartet. Dass er einen Anspruch auf die früher zur Sowjetunion gehörende Ukraine erhebt, konnte man zwar schon länger sehen, aber dass er dabei auch in absoluter Brutalität gegen die Bevölkerung vorgeht, hätte ich nicht für möglich gehalten. Wir haben in einem Deutsch-Russischen Gesprächskreis Putin die ganzen Jahre über im Blick gehabt und uns wissenschaftlich damit beschäftigt, wie stark sich Russland in ein autoritäres Regime entwickelt. Meine Beobachtung ist, dass Putin in den ersten zehn Jahren seine Stärke aus dem wachsenden Wohlstand durch die wirtschaftliche Stabilisierung Russlands bezog. Als diese Erfolge bröckelten, entstanden Unzufriedenheit und auch ein ideologisches Vakuum. Da begann Putin sich an der früheren Großmachtrolle des russischen Imperiums zu orientieren. Es gab 2013 in Moskau eine Ausstellung, die wie ein Schock war für mich – und auch für viele Russen.
Warum?
Das Thema war „400 Jahre Romanow-Dynastie“, und daran wurde erstmals ganz offen, geradezu plump, die glanzvolle Rolle des zaristischen Russlands durchexerziert. Es ging um die Expansion des Zarenreichs, also das Vermehren der russischen Erde, auf das Putin heute wieder Bezug nimmt. Die Oktoberrevolution von 1917 wurde in blutroten Farben als nationale Katastrophe geschildert. In der Ausstellung wurden voller Pomp die Zaren der Romanows in großen Gemälden dargestellt. Im allerletzten Saal hing dann in gleicher Größe ein Porträt von Putin. Da war klar: Hier bewegt sich etwas in eine fatale Richtung.
Wie schätzen Sie Putins Rückhalt in der Bevölkerung ein?
Die Besinnung auf die frühere Rolle als Weltmacht Russland wirkt durchaus in der Öffentlichkeit. Es gibt in Russland eine sehr große Landbevölkerung, die ihre Informationen vor allem über das Staatsfernsehen bezieht, und viele Ältere, die den vermeintlich goldenen Zeiten nachtrauern. Man konnte über die letzten 20 Jahre beobachten, wie Putin in einem schleichenden Prozess den Staat zentralisiert und alle Entscheidungsbefugnisse auf den Kreml zugeschnitten hat. Das hat er strategisch sehr geschickt gemacht. Heute gibt es keine gesellschaftliche Kraft mehr, die ihn bremsen könnte, keine Opposition. Es gibt nur die Straße, aber der Militärapparat ist so stark, dass jeder Protest im Keim erstickt wird.
Die Uni Kassel hat das Ost-West-Wissenschaftszentrum aufgelöst und heute keine Osteuropa-Experten mehr. Wäre es gerade in einer Stadt wie Kassel an der ehemaligen Zonengrenze wichtig, die Ost-West-Beziehungen weiter zu erforschen?
Das Interesse an Osteuropa ist generell schwächer geworden. Auch die Städtepartnerschaften, die in den ersten zehn Jahren nach dem Mauerfall geradezu euphorisch und sehr aktiv betrieben wurden, haben sich heute im Wesentlichen auf Schulpartnerschaften reduziert – nicht nur in Kassel. Die Attraktivität, sich mit dem neuen, unbekannten Partner einzulassen, ist einer Normalität internationaler Kontakte gewichen. Auch in den Hochschulen hat man gesagt, den Forschungsaustausch können die Fachbereiche selbst organisieren, wie mit allen anderen Ländern auch. Es herrschte gewissermaßen der Eindruck, die Verhältnisse hätten sich europaweit nivelliert. Seit dem 24. Februar haben wir eine ganz andere Situation. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen der Ost-West-Beziehungen. Umso wichtiger wird es jetzt, die Zivilgesellschaft – Schulen, Studierende, Forschende, Kirchengemeinden – wieder zusammenzubringen.
Mit welcher Perspektive?
Mit der langfristigen Perspektive, für ein friedliches Zusammenleben in Europa wieder in einen Dialog auch mit Russland zu kommen. Auf der zwischenmenschlichen Ebene sollten wir in der aktuellen Situation unsere Kontakte intensivieren, gerade weil Russland-Kooperationen offiziell ruhen. Der Informationstransfer ist jetzt wichtiger denn je, damit die Menschen in Russland auch unsere Sichtweise auf die Kriegsereignisse und politischen Zusammenhänge wahrnehmen. Auch für die Uni Kassel würde ich mir wünschen, dass man sich wieder stärker mit den Ost-West-Beziehungen auseinandersetzt. Bis 2018 hatte sie hier insbesondere im Transfer von Umwelttechnologien.
Dr. Gabriele Gorzka (72) war bis zu ihrem Ruhestand 2016 Leiterin des Ost-West-Wissenschaftszentrums der Uni Kassel, das 1992 gegründet wurde. Die gebürtige Gelsenkirchenerin ist promovierte Slawistin. Nach Kassel kam sie 1978 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der damaligen Gesamthochschule. Von 1990 bis 1994 war sie Vizepräsidentin der Kasseler Hochschule. Gabriele Gorzka lebt mit ihrem Mann in Niederzwehren und hat eine erwachsene Tochter.