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Linken-Politiker über Lübcke-Mord: „Stephan Ernst war nie abgekühlt“

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Von: Matthias Lohr

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Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf seiner Terrasse in Wolfhagen-Istha erschossen.
Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf seiner Terrasse in Wolfhagen-Istha erschossen. © Uwe Zucchi

Der Linken-Politiker Hermann Schaus war im NSU-Ausschuss und ist jetzt im Ausschuss, der den Mord an Walter Lübcke beleuchtet. Hier erzählt er, warum das so schwierig ist.

Kassel – An diesem Mittwoch vor 16 Jahren wurde der Kasseler Halit Yozgat durch den rechtsterroristischen NSU erschossen. Der Linken-Politiker Hermann Schaus war Mitglied des NSU-Ausschusses des hessischen Landtags, der 2018 seinen Abschlussbericht vorlegte. Nun ist er stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der seit knapp einem Jahr in Wiesbaden tagt. Wir sprachen mit dem 66-Jährigen, der über Lübcke, den NSU und rechte Strukturen am Donnerstag (18.30 Uhr) bei einer Veranstaltung im Sandershaus redet.

Der Lübcke-Untersuchungsausschuss tagt seit fast einem Jahr. Kritiker monieren, dass man bislang kaum vorangekommen sei. Sehen Sie das auch so?

Ja, ich finde, die Enttäuschung ist berechtigt. Es ist schwierig, an konkrete Informationen zu kommen. Das gilt besonders, wenn es sich um geheime oder geschwärzte Akten handelt. Für uns Ausschussmitglieder ist das keine neue Erfahrung. Im NSU-Ausschuss war es ähnlich. Generell gibt es eine große Neigung, erst auf ganz gezielte Anfragen Auskünfte zu geben.

Welche neuen Erkenntnisse über den Mord an Walter Lübcke haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten gewonnen?

Wir wissen jetzt, wann die Akte des Lübcke-Mörders Stephan Ernst beim Verfassungsschutz intern gelöscht wurde: am 16. Juni 2015. Bei Markus H. erfolgte die Löschung ein Jahr später. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Verantwortlichen vorher keine Prüfungen bei Ernst vorgenommen haben. Dazu werden wir heute die geladenen Verfassungsschützer und Verfassungsschützerinnen befragen.

Ihre Fraktion überraschte mit dem Hinweis auf einen Mann, auf den die Ermittler im Zuge von Ernsts Waffengeschäften gestoßen waren. Er betreibt die Security-Firma, deren Mitarbeiter 2019 für die Sicherheit auf der Kirmes in Istha sorgen sollten – an dem Wochenende, an dem Lübcke erschossen wurde. Sein Name taucht auch in den NSU-Akten auf, weil er in den 90er-Jahren Mitglied der militanten Neonazi-Gruppe Sauerländer Aktionsfront gewesen sein soll. Ist dies nur ein Zufall?

An Zufälle glaube ich nicht. Es hat mich doch sehr erstaunt, als wir das herausgefunden haben. Verwundert war ich auch, dass Staatsanwalt Dieter Killmer von der Bundesanwaltschaft das vorher nicht aufgefallen war. Dies ist bedauerlich, und ich hoffe, dass dem nachgegangen wird. Unerklärlich ist mir zudem, wie es sein konnte, dass Stephan Ernst im Januar 2016 nach dem Messerangriff auf den Iraker Ahmed I. durch einen Radfahrer doppelt in einer Rasterfahndung auffiel und es trotzdem nicht zu einer Hausdurchsuchung bei ihm kam. Er galt als gewalttätig und rechtsextrem, wohnte in der Nähe des Tatorts und fuhr meist mit dem Rad zur Arbeit. Bei einer Hausdurchsuchung damals hätte man wahrscheinlich noch eine aussagekräftige DNA-Spur am mutmaßlichen Tatmesser finden können. Ein Messer fand man erst nach dem Lübcke-Mord Jahre später bei ihm. Die sichergestellten DNA-Spuren reichten dem Gericht aber nicht für eine Verurteilung im Fall Ahmed I. Außerdem kannte er die Erstaufnahmeeinrichtung.

Sie waren auch schon im NSU-Untersuchungsausschuss. Wer könnte dem NSU-Kern-Trio geholfen haben, den Tatort in Kassel auszuspähen?

Schon im NSU-Ausschuss hatten wir eine Reihe an Vermutungen. Wir hatten damals mehrere Personen aus der nordhessischen Neonazi-Szene auf dem Schirm, konnten aber keine eindeutigen Beweise finden. Ein Großteil dieser Personen ist noch immer aktiv. Und sie gehörten auch zum Umfeld von Stephan Ernst und Markus H. Aus zeitlichen Gründen mussten wir im NSU-Ausschuss vorher aufhören, damit der Abschlussbericht noch vor Ende der Legislaturperiode vorgelegt werden konnte. Wir wollen aber diese Frage auch jetzt wieder erörtern. Dies wird aber nicht von allen Ausschussmitgliedern so gesehen.

Auch der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme, der 2006 während des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internet-Café gewesen sein soll, soll nach vielen Vernehmungen noch einmal aussagen. Was erhoffen Sie sich noch von ihm?

Nicht mehr sehr viel Neues. Ich bin überzeugt, dass er zur Tatzeit am Tatort war. Aber beweisen lässt sich das nicht. Nicht einordnen kann ich die Sache mit dem Landser-Bild. Der Rechtsextremist Mike S. berichtete im Ausschuss, dass Temme dies bei ihm gekauft habe – angeblich ohne zu wissen, wer er ist. Dass der damalige Verfassungsschützer Temme nicht merkt, dass er einen der wichtigsten Köpfe der nordhessischen Neonazi-Szene vor sich hat, kann ich mir nicht vorstellen.

Wird auch Ministerpräsident Volker Bouffier aussagen, der 2006 als Innenminister nach dem Yozgat-Mord verhinderte, dass V-Leute befragt werden, um die Quellen zu schützen?

Ja, wahrscheinlich zum Abschluss. Bislang ist die letzte Zeugenvernehmung noch offen. Aber da die Landtagswahl wohl im Herbst 2023 stattfinden wird, der Abschlussbericht sicher drei Monate in Anspruch nehmen wird und die Sondervoten der Fraktionen noch einmal zwei, gehe ich davon aus, dass die letzten Zeugen schon im März gehört werden müssen. Wir sind in jedem Fall jetzt schon unter Zeitdruck.

Wie sinnvoll sind generell Untersuchungsausschüsse, wo es ja immer wieder auch darum geht, den jeweiligen politischen Gegner schlecht aussehen zu lassen?

Parteitaktik spielt auf allen Seiten eine Rolle. So ehrlich muss man sein. Trotzdem sind Untersuchungsausschüsse ein sinnvolles Instrument, weil das Parlament Akten einsehen, Zeugen vernehmen und sich sehr konzentriert mit einer Angelegenheit beschäftigen kann. Die öffentliche Begleitung ist dabei ganz entscheidend. Wird über die Ausschussarbeit wenig berichtet, verpuffen Ermittlungsergebnisse schnell.

Was hat der NSU-Ausschuss gebracht?

Durch den NSU-Ausschuss sind die Unzulänglichkeiten der Arbeit der Behörden deutlich zutage getreten. Die Landesregierung musste eine Reihe von organisatorischen Konsequenzen ziehen. Zudem ist es uns mehrfach gelungen, geheime Akten zumindest teilweise herunterzustufen – etwa das Protokoll einer ehemaligen Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes über die Gefährlichkeit von Stephan Ernst.

Wann ist der Lübcke-Ausschuss für Sie ein Erfolg?

Ich finde, wir haben schon jetzt einige wichtige Dinge ans Tageslicht befördern können – etwa, dass Stephan Ernst nie „abgekühlt“ war, sondern auch nach seiner Verurteilung im April 2010 weiterhin in der nordhessischen Neonaziszene, bei Kagida und später auch bei der AfD dabei war.

NSU & Lübcke: Zusammenhänge, Aufarbeitung & Versäumnisse. Veranstaltung der Linken mit Hermann Schaus und der Referentin Luisa Hecker. Donnerstag (18.30 Uhr), Sandershaus, Sandershäuser Straße 70. (Matthias Lohr)

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