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Neuer Stolperstein in Kassel erinnert an jüdische Schülerin, die am Kirchweg lebte

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Von: Thomas Siemon

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 Goetheanlage und die damalige Malwida-von-Meysenbug-Schule um 1930.
Bei dieser Aufnahme, die um das Jahr 1930 entstand, erkennt man die heutige Goetheanlage und die damalige Malwida-von-Meysenbug-Schule. So dürfte sie Liesel Godschmidt gekannt haben. © Privat

Der Verein Stolpersteine erinnert an das Schicksal von jüdischen Menschen aus Kassel. Lisel Goldschmidt floh kurz nach dem Abitur 1934 vor den Nationalsozialisten.

Wer heute an der Heinrich-Schütz-Schule in der Nähe des Bahnhofs Wilhelmshöhe vorbeigeht, könnte sich auf eine Zeitreise begeben. Genau 88 Jahre zurück. Zusammen mit Lisel Goldschmidt, die 1934 die letzte jüdische Schülerin, die an der damaligen Malwida-von-Meysenbug-Schule ihr Abitur machte. Wenig später emigrierte sie zu Verwandten nach Schweden. Für Lisel Kahn, wie sie nach ihrer Heirat hieß, und ihre Eltern wird morgen ein Stolperstein am Kirchweg 80 verlegt. Das war ihre letzte Kasseler Adresse.

Liesel Goldschmidt als Kind mit sechs Jahren.
Liesel Goldschmidt als Kind mit sechs Jahren. © Privat

In ihren Erinnerungen beschrieb die Frau, die den Holocaust und den Krieg überlebte, wie sie schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Diskriminierung erlebte. Wolfgang Matthäus vom Verein Stolpersteine befasst sich seit vielen Jahren mit ihrer Lebensgeschichte und den Aufzeichnungen.

Erinnerungen an Diskriminierung und Antisemitismus auf dem Schulweg

Ein Auszug: „Meine ersten Erinnerungen an Judenhass hängen mit dem Kirchweg und seinen Nebenstraßen zusammen“, schreibt sie. An der zweiten Nebenstraße links habe sie eine Schar von Kindern erwartet, die, wenn sie sie sahen, im Singsang losgeschrien hätten: „Blonde Jüdin vom Kirchweg – Blonde Jüüü-din vom Kirchweg.“ Und an anderer Stelle: „Ich sehe mich mit einem Stückchen Kreide in der Hand herumgehen und Hakenkreuze an den Hauswänden in Quadrate, mit vier Vierecken darin, verwandeln. Es muss dies schon vor 1925 gewesen sein.“

Letzte jüdische Abiturientin an der Schule

Lisel Goldschmidts Schulalltag sollte sich mit dem Beginn der NS-Herrschaft radikal verändern. In ihren Lebenserinnerungen schreibt sie: „Menschen wie du und ich, normale anständige Menschen mit ethischen Grundsätzen, mit Denk- und Urteilsfähigkeit, ließen nicht nur Grausamkeiten geschehen, sondern wurden selbst unmenschlich und grausam.“ Ausführlich beschreibt sie, wie die jüdischen Schülerinnen ihrer Klasse zunehmend diskriminiert und isoliert wurden, bevor sie als letzte der Schule 1934 noch das Abitur ablegen konnten.

Kurz vor den Novemberpogromen 1938 musste ihre Mutter Klara Goldschmidt schwer krank in das jüdische Krankenhaus in Frankfurt transportiert werden. Zu dem Zeitpunkt habe „kein Krankenhaus in Kassel Juden aufnehmen dürfen, wollen oder können“. Als in Kassel die Synagoge brannte, reiste David Goldschmidt „Hals über Kopf in der Nacht zum jüdischen Krankenhaus“ in Frankfurt zu seiner Frau, wo er allerdings verhaftet und in das KZ Buchenwald verschleppt wurde.

Vater und Onkel überlebten das KZ Buchenwald

Seinen Bruder Ludwig verhaftete die Gestapo in Kassel und ließ ihn gleichfalls in Buchenwald inhaftieren. Beide wurden in einem abgegrenzten Bereich innerhalb des Konzentrationslagers über Wochen gequält und gedemütigt. Lisels Vater überlebte, sei aber ein gebrochener Mann gewesen als er im schwedischen Exil ankam. Sein Bruder Ludwig überstand das KZ ebenfalls und entkam gerade noch zu Kriegsbeginn 1939 mit Frau und Tochter nach England. Trotz der Verfolgung sei es ihm nie gelungen, „innerlich von seiner Heimatstadt loszukommen“, schreibt seine Nichte.

Deshalb habe er nach dem Krieg das Angebot angenommen, in Kassel als Richter am Oberlandesgericht tätig zu werden und beim Aufbau einer demokratischen Justiz zu helfen. Er war von 1948 bis 1951 Oberlandesgerichtsrat und gehörte auch dem Verwaltungsgerichtshof an. Später wurde er Vizepräsident des Hessischen Staatsgerichtshofs. Mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes wurden 1965 seine Verdienste um den Aufbau einer demokratischen Justiz gewürdigt. Ludwig Goldschmidt starb im Mai 1970 und wurde auf dem neuen jüdischen Friedhof seiner Heimatstadt beigesetzt.

Wolfgang Matthäus: Verein Stolpersteine.
Wolfgang Matthäus: Verein Stolpersteine. © Christina Hein

Wolfgang Matthäus erinnert sich an den Besuch von Lisel Kahn (geborene Goldschmidt) in den 1980er-Jahren in ihrer Heimatstadt Kassel. Damals begleitete er sie. Den Rundgang an der Heinrich-Schütz-Schule habe sie nach kurzer Zeit abgebrochen. Zu überwältigend seien die Erinnerungen gewesen.

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