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Tafel Kassel in Not: „Die Situation hat sich weiter zugespitzt“

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Von: Florian Hagemann

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Engagiert sich: Helga Schmucker-Hilfer ist zweite Vorsitzende der Tafel Kassel und berichtet über die Notlage der Einrichtung.
Engagiert sich: Helga Schmucker-Hilfer ist zweite Vorsitzende der Tafel Kassel und berichtet über die Notlage der Einrichtung. © Andreas Fischer

Die Tafel Kassel hilft Bedürftigen. Allerdings stößt sie an Grenzen. Im Interview spricht zweite Vorsitzende Helga Schmucker-Hilfer über den Andrang, der mit Geflüchteten aus der Ukraine zunimmt.

Kassel – Frau Schmucker-Hilfer, vor einem Monat haben wir getitelt, dass die Tafeln Alarm schlagen. Wie stellt sich die Situation heute dar?

Die Situation hat sich seitdem noch weiter zugespitzt. Wir haben circa 3000 Bestandskunden. Das sind Menschen, die einen Berechtigungsschein haben und nicht in einer Einrichtung leben. Sie bekommen alle zwei Wochen ausreichend Lebensmittel. Damit sind wir an der Grenze dessen, was wir bewältigen können. Wer jetzt neu zu uns kommt, muss eine Wartezeit bis September inkauf nehmen. Das hatten wir jahrelang überhaupt nicht. Hinzu kommen die ukrainischen Flüchtlinge, die uns förmlich überrennen und die wir natürlich nicht abweisen.

Können Sie eine Zahl nennen?

Allein heute haben wir 42 neue Geflüchtete aufgenommen. Wir gehen im Moment davon aus, dass wir mittlerweile schon weit mehr als 1000 Geflüchtete aus der Ukraine versorgt haben. Und diese Menschen versorgen wir derzeit zusätzlich zu unseren Bestandskunden. Sie bekommen eine sogenannte Nottüte und einen Termin, wann sie wieder kommen sollen. Aber das führt dazu, dass wir unsere Kapazitäten übersteigen.

Was bedeutet das konkret?

Wir kaufen derzeit Waren hinzu, was aber dem Prinzip der Tafelarbeit widerspricht. Das besteht darin, dass wir Lebensmittel, die eigentlich weggeworfen werden sollen, an Bedürftige verteilen. Was man aber auch sagen muss: Wir bekommen im Moment auch vermehrt Lebensmittelspenden von Privaten, die für Ukrainer gedacht sind. Das hilft uns weiter, aber es ändert nichts daran, dass wir ohne Zukäufe im Moment nicht klarkommen. Und wir sprechen hier von Waren im Wert von 1000 bis 2000 Euro pro Woche.

Ist denn dieses Geld vorhanden?

Erfreulicherweise bekommen wir regelmäßige Geldspenden, für die wir sehr dankbar sind. Ohne sie würden wir es nicht schaffen. Aufgrund der neuen Herausforderungen sind wir mehr denn je darauf angewiesen. Und im Moment helfen uns diese Spenden für Lebensmittelankäufe am meisten weiter, auch wenn uns Spenden von Lebensmitteln oder Hygieneartikeln selbst natürlich auch willkommen sind, keine Frage.

Das Finanzielle ist ja das eine, die Logistik das andere. Wie bewältigt die Tafel den Andrang?

Wir werden unser System etwas umstrukturieren und ab dem 25. April einen neuen Öffnungstag in unseren Plan aufnehmen, der nur für die Ukrainer gedacht ist. Im Moment haben wir von Dienstag bis Freitag jeden Tag eine Lebensmittelausgabe – am Freitag sind es zwei Ausgaben. Jetzt nehmen wir den Montag für die Ukrainer hinzu, denen wir zwischen 14 und 16 Uhr Lebensmittel ausgeben. Entsprechende Aushänge auf Ukrainisch haben wir bereits angefertigt. Die Ukrainer bekommen dann natürlich mehr Lebensmittel als in einer sogenannten Nottüte. Wir können allerdings keine Personen versorgen, die in Einrichtungen der Stadt Kassel oder des Landkreises untergekommen sind und dort verpflegt werden. Dafür bitten wir um Verständnis.

Wenn immer mehr Menschen Lebensmittel über die Tafel beziehen: Wird die Stimmung unter den Kunden auch schlechter?

Noch nicht. Die Kunden sind selbst bei Regen sehr geduldig und entspannt. Da ist kein Neid oder kein Kampf um Lebensmittel zu spüren. Aber unsere Befürchtung ist, dass sich dies ändert, wenn wir weniger zu verteilen haben – und gleichzeitig aber mehr Kunden versorgen. Leider bekommen wir derzeit ja auch weniger Lebensmittelspenden von Lebensmittelgeschäften, und wir können nur das herausgeben, was wir haben. Der Zukauf darf nur eine absolute Ausnahme sein.

Gibt es denn Anzeichen, dass die Lebensmittelspenden der Supermärkte wieder mehr werden?

Ja, wir merken auch, dass wir wieder etwas mehr bekommen als unmittelbar nach Beginn des Krieges. Da hatte die Menge der Lebensmittelspenden für die Tafel extrem abgenommen, weil viele Waren direkt an die Ukrainer gingen. Davon ab gab es schon immer Schwankungen. In den vergangenen Jahren gingen die Spenden aber auch deshalb kontinuierlich zurück, weil die Lebensmittelgeschäfte punktgenauer Waren bestellen, sodass am Ende weniger für die Tafeln übrig bleibt.

Wie sieht es denn mit der Unterstützung der Helfer aus?

Die ist nach wie vor groß. Wir haben genug Personal, auch um einen zusätzlichen Arbeitstag zu bestücken. Das ist sehr erfreulich, auch wenn die gesamte Organisation eine logistische Herausforderung für alle Beteiligten darstellt.

Abschließend: Würden Sie sagen, dass die Not noch nie so groß war wie derzeit?

Ja, weil hier zwei Entwicklungen aufeinandertreffen: Zum einen das Leid der Ukrainer, zum anderen die Zunahme an Bedürftigen hierzulande. Während Corona ist die Zahl der Menschen, die sich bei den Tafeln Lebensmittel geholt haben, leicht zurückgegangen – warum auch immer. Jetzt nimmt die Zahl aber wieder zu, was natürlich auch mit der Preissteigerung in den vergangenen Wochen zu tun hat. Dadurch geraten immer mehr Menschen in Not – vor allem Rentner und alleinerziehende Mütter.

Hinweis: Die Tafel Kassel finden Sie im Internet unter kasselertafel.de Haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel nimmt sie montags bis freitags zwischen 8 und 14 Uhr an, Holländische Straße 141.

Von Florian Hagemann

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