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Tödliche Schüsse bei Polizeieinsatz - Wissenschaftler äußert sich zu Waffengebrauch

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Im Landkreis Kassel erschießen Polizisten einen bewaffneten Mann bei einer Verkehrskontrolle. Ein Polizeiwissenschaftler äußert sich nun dazu.

Nach einer Polizeikontrolle in Vellmar, bei der Polizisten am Montagabend (03.02.2020) einen 66 Jahre alten Mann aus Kassel erschossen haben, sprach die HNA* mit dem Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Professor Thomas Feltes über Waffengebrauch im Polizeieinsatz.

Herr Feltes, in Vellmar ist ein offenbar betrunkener 66 Jahre alter Mann mit einem Messer auf Polizisten losgegangen und erschossen worden. Kommt das häufig vor?

Leider haben sich in den vergangenen Monaten solche Vorkommnisse gehäuft. Das mag Zufall sein, aber man sollte sich damit näher beschäftigen. Tatsächlich registrieren wir zunehmend Fälle von Tötungen psychisch gestörter Personen durch die Polizei. 

Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle in Vellmar - Viele psychisch gestört

Über die vergangenen Jahre hinweg waren acht von zehn erschossenen Personen psychisch gestört. Teilweise mit, teilweise ohne Alkoholkonsum. Den Fall in Vellmar zu beurteilen, ist schwierig, weil es keine näheren Informationen gibt.

Wie gefährlich ist es für Polizisten, wenn Sie mit einem Messer bedroht werden?

Generell haben Polizisten sehr großen Respekt vor Messern. Bei einem Besuch der New Yorker Polizei wurde uns deutlich gemacht, dass ein Messerangriff das Schlimmste ist, was passieren kann. 

Landkreis Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle - Großer Schaden durch Messerangriff

Ein Messer geht durch gängige Schusswesten durch. Mit einem Messer kann unter Umständen mehr Schaden angerichtet werden, als mit einer Schusswaffe.

Vom Prinzip her ist das also tatsächlich eine gefährliche Situation gewesen?

Ja. Die Frage, die ich mir dabei stelle, ist, warum konnte der Mann überhaupt ein Messer ziehen? Warum hat er gestanden? 

Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle - Fahrzeug sollte nicht verlassen werden

Wenn jemand im Fahrzeug kontrolliert wird, dann sollte er das Fahrzeug erst mal nicht verlassen. Das ist eigentlich Standard bei polizeilichen Kontrollen.

Wie sollen sich Polizisten grundsätzlich in solchen Situationen verhalten?

Es gibt klare Vorgaben für die Kontrolle von Fahrzeugführern. Auf den konkreten Fall bezogen kann ich nicht sagen, ob diese Vorgaben eingehalten wurden, da ich die genaue Situation nicht kenne. 

Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle - Polizei bei Messerangriffen hilflos

Das wäre Spekulation. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass die Polizei im Umgang mit Messerangriffen tatsächlich relativ hilflos ist, weil sie nur ihre Schusswaffen zur Verfügung hat.

Gibt es Alternativen? Also Taser statt Schusswaffen?

Taser lehne ich strikt ab. Er ist keine Alternative im normalen Polizeieinsatz. Insbesondere wenn es sich um psychisch Kranke, stark Alkoholisierte oder unter Drogeneinfluss stehende Personen handelt, wirkt der Taser oft nicht. 

Toter bei Verkehrskontrolle im Landkreis Kassel - Teaser hilft im Ernstfall nicht

Diese Personen haben kein entsprechendes Schmerzempfinden. Hinzu kommt, dass gerade bei einem Messerangriff keine Zeit bleibt, mit dem Taser entsprechend zu agieren. 

Die Taser, über die wir hier reden, bestehen aus Widerhaken, die an Angelschnüren befestigt sind, und abgeschossen werden. Dazu müssen Polizisten das Gerät zunächst herausholen, zielen, treffen und dann den Stromstoß abgeben. Das hilft bei einem Messerangriff überhaupt nicht.

Wann dürfen Polizisten ihre Waffe im Einsatz gebrauchen?

Wenn Lebensgefahr für Polizisten oder Dritte besteht.

Schüsse bei Verkehrskontrolle in Kassel - Angriffe dürfen sofort abgewehrt werden

Und wohin dürfen sie dann zielen?

In einer solchen Notwehrsituation kann und darf man den Angriff sofort und auch wirksam abwehren. Es gibt keine Richtlinien, wohin dabei geschossen werden darf. 

Zudem kann man Polizisten nicht zumuten, erst mal auf die Beine zu schießen, auf die Gefahr hin, dass man nicht trifft. Das wäre viel zu gefährlich und riskant.

Toter bei Verkehrskontrolle - Keine Richtlinien, wohin geschossen werden darf

Es ist also ein Irrglaube, Polizisten müssten auf die Beine oder Arme zielen?

Ja, auch weil das in der Realität nicht funktioniert. Wir reden über eine extrem dynamische Situation, in der die Person ihre Arme und Beine bewegt.

Gibt es andere Möglichkeiten, als die Waffe zu ziehen?

Das hängt davon ab, wie gegenwärtig die Gefahr für Dritte, die Polizisten oder auch für den Betroffenen selbst ist. Wenn die Person alkoholisiert ist und keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht, muss ein Polizist nicht offensiv auf die Person zugehen. 

Der Beamte kann sich zurückziehen und abwarten. Nur wenn eine unmittelbare Gefahr besteht, wenn der Täter also beispielsweise mit einem Messer durch ein Einkaufszentrum läuft, dann muss die Polizei sofort handeln.

Tödliche Schüsse im Landkreis Kassel - Gab es keine Alternative?

Ansonsten sind Beamte sehr wohl in der Lage, einem Angriff auszuweichen und abzuwarten, ob die Lage sich beruhigt. Das ist besonders bei psychisch gestörten Personen extrem wichtig, denn in dem Moment, wo ein Polizeibeamter auf eine psychisch gestörte Person zugeht, empfindet diese das als Angriff und glaubt, sich verteidigen zu müssen.

Entsprechende Fälle hatten wir vor Kurzem wieder in Berlin. Aber wenn der Mann in Vellmar tatsächlich alkoholisiert und 66 Jahre alt gewesen ist, dann habe ich Zweifel, ob es keine Alternativen gab und man diese Person wirklich erschießen musste.

Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle in Vellmar - Schießtraining bleibt im Alltag auf der Strecke

Werden Polizisten genügend auf solche Situationen vorbereitet?

Ein Schießtraining ist obligatorisch, wobei da meist mehr oder weniger entspannt auf Scheiben geschossen wird. Ein Schießtraining unter Stressbedingungen findet zwar in der Ausbildung statt, aber danach nicht mehr.

Im Einsatztraining lernen die Beamten auch, wie man deeskalierend wirkt. Das ist auch Bestandteil der Ausbildung, bleibt aber irgendwann im Polizeialltag auf der Strecke.

Toter bei Verkehrskontrolle im Landkreis Kassel - Einsatz der Waffe eher selten

Der Einsatz der Waffe ist glücklicherweise ein seltenes Ereignis. 2018 wurden von Polizisten in Deutschland 125 Schüsse auf Personen abgegeben, fast die Hälfte davon waren Warnschüsse. Bei über 220.000 Polizisten wird deutlich, dass die Mehrheit nie von der Schusswaffe Gebrauch macht. 

Deshalb handelt es sich immer um eine Situation, die überraschend kommt und nicht wirklich geübt werden kann. Umso wichtiger ist es, dass der Beamte nicht glaubt, die Autorität der Polizei unter allen Umständen durchsetzen zu müssen.

Schüsse bei Verkehrskontrolle in Kassel - Zurückhaltung der Polizei erwünscht

Kommt das denn oft vor?

Hierbei handelt es sich um ein Grundproblem, dass wir vor einigen Jahren in einer Studie untersucht haben: Polizisten haben oft das Gefühl, sie müssen ihre eigene und die Autorität als staatliche Institution durchsetzen, indem sie beispielsweise einem Flüchtigen wegen eines leichteren Verstoßes mit hoher Geschwindigkeit hinterherfahren und dabei möglicherweise andere gefährden. Auch müssen nicht immer und überall alle polizeilichen Anordnungen sofort mit Gewalt durchgesetzt werden. 

Hier würde ich mir mehr Zurückhaltung wünschen. Die Philosophie, wir müssen immer und überall unsere Autorität durchsetzen, muss aus den Köpfen raus.

Schüsse bei Verkehrskontrolle - Psychische Belastung nach Schusswaffengebrauch

Sind Sie allein mit dieser Meinung oder wird das in Polizeikreisen diskutiert?

Zunehmend wird den Polizeibeamten bewusst, welche extremen Folgen ein Schusswaffeneinsatz auch für sie selbst hat oder haben kann. Ich glaube, dass hier, gerade was den Einsatz der Schusswaffe gegenüber psychisch gestörten Personen angeht, ein Nach- und gegebenenfalls Umdenken einsetzt.

Was sind denn die Folgen?

Die Betroffenen leiden oft unter den mittel- bis langfristigen Folgen eines Schusswaffengebrauchs. Der Polizist, der einen Menschen getötet hat, muss dies erst einmal verarbeiten, ganz gleich, ob er das Gefühl hat, richtig oder falsch gehandelt zu haben.

Kassel: Toter bei Verkehrskontrolle in Vellmar - Viele lehnen psychologische Beratung ab

Wie wird ein Polizist betreut, der auf einen Menschen geschossen hat?

Dem Beamten wird eine psychologische Beratung angeboten, die er aber oftmals nicht annimmt, weil er dann den Eindruck erweckt, schwach zu sein. Bei der Polizei gilt: „Wir sind alle stark und können damit umgehen.“ Viele wenden sich dann an den Polizeipfarrer oder suchen sich auf privatem Wege Hilfe. 

Der Weg über den Hausarzt ist schwierig, weil Polizeibeamte nur bedingt ihren Arzt frei wählen können. Wenn sie eine Therapie machen, bekommt der Dienstherr das mit. Das hindert viele daran, sich Hilfe zu holen.

In vielen Polizeidirektionen gibt es eine Hilfe unter Kollegen, nicht nur in solchen Fällen, sondern auch bei anderen persönlichen Krisen und Belastungen. Beim Schusswaffengebrauch wird aber mittel- bis langfristig oftmals eine Traumatherapie benötigt, weil posttraumatische Belastungsstörungen erst Monate oder sogar Jahre später auftreten können.

Von Alia Diana Shuhaiber

Erst vor wenigen Tagen ereigneten sich die tödlichen Schüsse bei der Verkehrskontrolle im Landkreis Kassel. Der 66-Jährige starb an den Verletzungen.

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