Ukraine-Krieg: Erste Flüchtlinge kommen in Kassel an – „Wir hatten große Angst“

Auch in Kassel kommen flüchtende Menschen aus der Ukraine an. Wir treffen die erste Familie, die in einer Flüchtlingsunterkunft der Stadt untergebracht wird.
Kassel – Amy-Michelle presst ihre Puppe an sich – die einzige, die ihr geblieben ist. Immer wieder wird das siebenjährige Mädchen von Weinkrämpfen durchgeschüttelt. Den Rest ihrer großen Puppensammlung hat sie zuhause in der Ukraine lassen müssen. Nun ist sie in großer Sorge um ihre geliebten Spielzeug-Kinder. Oma Tetiana tröstet die Enkelin so gut es geht, aber kämpft selbst immer wieder mit den Tränen. Mutter Eugenia Belogaj ist schon gefasster. „Es geht uns ein bisschen besser. Es ist safe und warm“, sagt die 37-Jährige in einer Mischung aus Deutsch und Englisch.
Seit Dienstag (01.03.2022) ist die Familie, die aus Mukatschewo in der Westukraine kommt, in Kassel. Zwei Tage war die Mutter mit ihren Töchtern Amy-Michelle und Sofie-Nicole, Oma Tetiana Skyba und Pudel Max unterwegs. In Autos von Bekannten und per Anhalter haben sie es bis nach Kassel geschafft. Hier hoffen sie nun Eugenias Ehemann Eugenias Mykola und damit den Vater der beiden Mädchen zu treffen, der seit zwei Jahren in Kassel in Gelegenheitsjobs arbeitet. Durch ein verlorenes Handy war der Kontakt ausgerechnet wenige Tage vor Beginn des russischen Einmarschs abgebrochen. Wo genau er sich aufhält, weiß die Familie nicht.
Ukraine-Flüchtlinge in Kassel: Noch ist kaum etwas ausgepackt
Nach der Ankunft am Dienstagmorgen (01.03.2022) hatten die Frauen in ihrer Not bei der Caritas in Kassel angeklopft. Nun ist die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft in Rothenditmold untergekommen. „Die Menschen hier sind sehr nett und helfen uns, dafür sind wir dankbar“, sagt Eugenia Belogaj auch mithilfe einer Übersetzungsapp auf dem Handy.

Es sei ihnen sehr schwergefallen, die Heimat zu verlassen, sagt die zweifache Mutter, die bis vor wenigen Tagen als Chefsekretärin in einem Krankenhaus gearbeitet hat. „Wir hatten ein gutes Leben“, sagt sie. Alles, was davon übrig ist, steckt nun in drei großen Koffern und einigen Taschen. Noch ist kaum etwas ausgepackt.
„Hier ist Peace und da ist Krieg“: Geflüchtete aus der Ukraine in Kassel angekommen
„Wir hatten große Angst“, sagt die 37-Jährige über die letzten Tage in Mukatschewo. Als sie am Morgen des 24. Februar aufstand und im Fernsehen sah, dass Krieg ist, sei das ein Schock gewesen. Vier Tage habe man in Angst und Schrecken verbracht, das Haus nicht mehr verlassen, die Kinder hätten viel geweint.
Dann seien sie aufgebrochen. „Wir mussten“, sagt die zweifache Mutter und schaut dabei zu ihren beiden Töchtern. „Hier ist Peace und da ist Krieg.“ Die Sorge um viele Freunde und Verwandte in der Heimat bleibt. Das Handy als Informationsmedium und Verbindung zu den Lieben zuhause legt die 37-Jährige von morgens bis nachts kaum aus der Hand.
Am kommenden Mittwoch (09.03.2022) wird die ältere Tochter Sofie-Nicole elf Jahre alt. Eigentlich war eine Feier mit ihren Freundinnen geplant. Doch nun muss der Geburtstag zwischen zwei Hochbetten in der Flüchtlingsunterkunft in Kassel im kleinsten Kreis stattfinden. Was sie sich wünschen würde? „Ein Fahrrad“, sagt das Mädchen nach längerer Überlegung und schlägt mit einem Lächeln die Augen nieder. Und eine Schoko-Nuss-Torte. Und Papa. Zumindest der Kuchen wird sich machen lassen, sagt Mutter Eugenia.
Kassel: Geflüchtete wollen wieder in die Ukraine zurück
Die Mädchen sehnten sich nach Spielkameraden und hofften sehnlichst, dass weitere Familien in die Unterkunft kommen. Auch ihr heiß geliebtes Karate-Training vermisst Sofie-Nicole. Derzeit gibt es nicht viel zu tun für sie und ihre Schwester. Sie würden gern wieder in die Schule gehen.
Eugenia Belogaj und ihre 56-jährige Mutter, die Krankenschwester ist, hoffen, hier arbeiten zu können. Ihr Wunsch sei, so bald wie möglich in die Ukraine zurückkehren zu können, sagt die 37-Jährige. „Aber ich fürchte, dort ist bald alles zerstört.“ (Katja Rudolph)
Binnen weniger Tage haben Nutzer des Buchungsportals Airbnb Tausende Nächte in Unterkünften in der Ukraine gebucht – und Airbnb so zur Spendenplattform gemacht.