1. Startseite
  2. Kassel

Integrationsbeauftragte: „Jeder soll aktiver Teil der Gesellschaft sein“

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Matthias Lohr

Kommentare

Neue Integrationsbeauftragte der Stadt Kassel: Teslihan Ayalp.
Neue Integrationsbeauftragte der Stadt Kassel: Teslihan Ayalp. © Stadt Kassel

Teslihan Ayalp kam als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland. Nun ist die 40-Jährige Kassels neue Integrationsbeauftragte und mahnt zum Dialog.

Kassel – Die neue Integrationsbeauftragte der Stadt Kassel weiß, vor welchen Herausforderungen Migranten stehen. Teslihan Ayalp kam als Kind mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. Nun ist die 40-Jährige Nachfolgerin von Carsten Höhre. Für Bürgermeisterin Ilona Friedrich (SPD) ist Ayalp „ein ideales Bindeglied zwischen allen Handelnden. Sie ist bestens vernetzt in der Stadtgesellschaft, kennt die Migrantenorganisationen, die Verwaltung und alle wichtigen Akteure.“ Wir sprachen mit der neuen Integrationsbeauftragten.

Frau Ayalp, Sie kamen 1994 mit einem Teil Ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. Ihr Vater sagte zu Ihnen: „Das ist jetzt eure Heimat. Ihr lebt hier, ihr müsst euch engagieren und die Sprache lernen.“ Haben Sie jemals gedacht, dass der Rat ihres Vaters falsch ist?

Nein, niemals. Mein Vater war ein sehr bildungsorientierter Mensch. Heute würde man sagen: Er war ein Selfmade-Akademiker, der auch gern seine Meinung kundgetan hat. In der Türkei konnte er nach der Mittelschule keine weiterführende Schule mehr besuchen. Aber dafür hat er sich zu Hause viel selbst beigebracht und viele Bücher gelesen. Auch politisch hat er sich engagiert – etwa in der Bürgerrechtsbewegung in den kurdischen Gebieten. Da meine Mutter weder schreiben noch lesen kann, war es für ihn wichtig, dass es insbesondere seinen Töchtern besser ergeht. Er hat uns gezeigt, dass man auch ohne Hochschulabschluss Sachen hinterfragen kann und nicht alles hinnehmen muss.

Wo haben Sie begonnen, sich zu engagieren?

Schon in der Schule. Ich war fünf Jahre hintereinander Klassensprecherin – erst in der Türkei, dann auch in Deutschland. Und in der Hochschule habe ich mich im Fachschaftsrat und im Asta engagiert. Ich engagiere mich aber nicht, weil ich Migrantin bin, sondern weil ich für diese Gesellschaft und diese Stadt einen Beitrag leisten möchte.

Warum engagieren sich manche Migranten nicht und legen keinen Wert darauf, Deutsch zu lernen? Oder ist das ein Vorurteil?

Teils, teils. Ich hatte natürlich auch zunächst Vorurteile. Man nimmt das auf, wenn andere sagen: „Die Leute leben seit 30 Jahren hier und können immer noch kein Deutsch.“ Studien zeigen aber, dass der Zugang zu Sprache und Bildung damals für Migranten nicht immer gegeben war. Es gab schlichtweg zu wenig Angebote. Großflächige Integrationskurse gibt es erst seit Beginn der 2000er-Jahre. Auf der anderen Seite haben die eingewanderten Menschen natürlich auch vorrangig dort gelebt, wo sie quasi unter sich waren. Migranten kommen in bestimmten Stadtvierteln an, weil es nur da bezahlbaren Wohnraum gibt. Dort bleiben sie und organisieren sich untereinander auch.

Wie war das bei Ihnen?

Ich bin damals durch meinen Mann aus beruflichen Gründen relativ früh nach Hamburg gezogen und habe im Stadtteil Wilhelmsburg gewohnt. In den drei Jahren, die ich dort gelebt habe, hatte ich die deutsche Sprache, die ich in Nordhessen erlernt hatte, fast schon wieder vergessen. Nach meiner Rückkehr fragte man mich, wie das gekommen ist. Mein Arzt hat Türkisch und Kurdisch gesprochen, der Bäcker war Türke, beim Lebensmittelhändler wurde Türkisch gesprochen. Es setzt eine gewisse Bequemlichkeit ein, nicht deutsch zu sprechen. Eines ist vielen aber nicht bewusst.

Was denn?

Viele Migranten helfen sich untereinander – etwa indem sie Formulare oder Briefe übersetzen. Solch familiäre Unterstützungen und Nachbarschaftshilfen gibt es häufig. Zudem haben wir in Kassel jede Menge ausländische Vereine – griechische, spanische, türkische, eritreische oder somalische. Auch diese stellen viele Aktivitäten auf die Beine. Das ist ebenfalls ehrenamtliche Arbeit.

Was ist die größte Herausforderung für Zugewanderte in Kassel?

Die größte Herausforderung ist es, erst einmal anzukommen und sich angenommen zu fühlen. Es ist wichtig, dass es dann Menschen gibt, die sagen: „Schön, dass du da bist. Wie kann ich helfen?“ Ich habe mich in Deutschland willkommen gefühlt – auch wenn es sicher mal negative Erfahrungen gab. Zudem hatte ich das Glück, dass mich in der Schulzeit viele Lehrerinnen und Lehrer sehr unterstützt haben.

Sie sagen, in Kassel sollen alle teilhaben, unabhängig von ihrer Herkunft. Wie wollen Sie das als Integrationsbeauftragte ermöglichen?

Jeder soll ein aktiver Teil der Gesellschaft sein, unabhängig von der Herkunft, ob mit oder ohne Behinderung. Diese Vielfalt birgt so viel Potenzial, von dem wir alle profitieren können. Der Zugang zu Bildungsangeboten soll allen offenstehen. Wissen Migranten, dass es Musikschulen und Kunstangebote gibt? Vielfaltförderung und interkulturelle Öffnung betreffen auch die Stadtverwaltung. Wir wissen, dass Diversität oder Mehrsprachigkeit ein Gewinn für den öffentlichen Dienst sind. Teilnahme heißt nicht nur Bildung und Arbeit. Es geht auch um gesellschaftliche Teilhabe, sei es in Freizeit, Sport, Kultur oder Politik. Hier sehe ich viele Ansätze, die es auszubauen gilt.

Durch den Ukraine-Krieg werden viele Flüchtlinge kommen. Und niemand weiß, ob sie jemals wieder in ihre Heimat können. Ist Kassel darauf vorbereitet?

In Kassel sind wir gut aufgestellt und krisenerprobt. Wir haben bereits 2015/2016 die Flüchtlingssituation gut bewältigen können. Auch in der Corona-Pandemie war Kassel sehr gut aufgestellt. Ich erinnere mich, wie ich selbst vor einem Jahr im Impfzentrum die mobilen Impfteams mit koordiniert habe. Das war ein enormer Kraftakt, aber die Menschen waren glücklich, wie zahlreiche Dankesbriefe zeigen. Auch jetzt werden meine hervorragenden Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen ihr Bestes geben.

Die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine ist beeindruckend. Allerdings gibt es Kritiker, die fragen, warum man gegenüber Menschen etwa aus Syrien oder Afrika nicht ebenso offen ist. Können Sie nachvollziehen, dass sich manche als Flüchtlinge zweiter Klasse fühlen?

Darüber führe ich gerade viele Gespräche. Es gab auch damals eine große Solidarität mit den Geflüchteten. Erinnern Sie sich nur an die Szenen im September 2015 am Münchner Hauptbahnhof. Menschen hatten Lunch-Pakete gepackt, gaben Wasser und Kleidung aus, Kinder bekamen Spielsachen. Auch in Kassel war das so. In der Flüchtlingshilfe waren und sind viele Menschen engagiert. Darauf bin ich stolz. An diese Momente müssen wir jetzt erinnern, wenn Menschen heute sagen, es gebe Flüchtlinge erster und zweiter Klasse. Hier darf niemand gegeneinander ausgespielt werden.

Als ich zuletzt mit Russlanddeutschen aus Helleböhn sprach, redeten viele wie Putin von einem Genozid an den Russen in der Ukraine. Wie kann man diese Menschen aus der Parallelgesellschaft integrieren?

Den Begriff Parallelgesellschaft finde ich unpassend. Vielfach ist die Haltung sicher auch eine Frage, inwieweit Deutsche aus Russland weiterhin ausschließlich russische Kultur, Sprache und Medien pflegen. Aber ihre Kinder gehen in Schulen und sind Teil des Bildungssystems. Frauen und Männer gehen arbeiten. Es wird weiterhin auf uns alle ankommen. Wir als Nachbarn, als Multiplikatoren, müssen mit ihnen im Gespräch bleiben – und zwar ohne erhobenen Zeigefinger. Wir müssen die Begegnung, den Dialog fortsetzen und damit Brücken bauen. (Matthias Lohr)

Auch interessant

Kommentare

Liebe Leserinnen und Leser,
wir bitten um Verständnis, dass es im Unterschied zu vielen anderen Artikeln auf unserem Portal unter diesem Artikel keine Kommentarfunktion gibt. Bei einzelnen Themen behält sich die Redaktion vor, die Kommentarmöglichkeiten einzuschränken.
Die Redaktion