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Forstfeld: Ein vielfältiger Stadtteil trotz einiger Handicaps

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Von: Matthias Lohr

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Aus Hakenkreuzschmierereien wurde Graffiti-Kunst: Hauswand in der Windhukstraße, die vom Künstler WON ABC und dem Verein Kolor Cubes gestaltet wurde.
Aus Hakenkreuzschmierereien wurde Graffiti-Kunst: Hauswand in der Windhukstraße, die vom Künstler WON ABC und dem Verein Kolor Cubes gestaltet wurde. © Matthias Lohr

Die documenta fifteen findet auch im Kasseler Osten statt. In einer kleinen Serie beleuchten wir die vier Stadtteile östlich der Fulda, die nun in den Fokus rücken – diesmal: Forstfeld.

Kassel – In der Vergangenheit hatte Forstfeld nicht das beste Image. Im Regiowiki der HNA ist von Wohnquartieren die Rede, die „lange Zeit in einem erbärmlichen Zustand waren“. Doch heute, so ist in dem Text zu lesen, „sind viele Forstfelder überzeugt, in einem der schönsten Stadtteile Kassels zu leben“. Wie ist es hier wirklich?

Die Forstfelderin

In ihrem Leben hat Sylvia Hildebrandt bislang nur einmal überlegt, Forstfeld zu verlassen. Als sie gerade eine Familie gründete, dachte sie, die Unterneustadt mit vielen jungen Menschen könnte eine Alternative zu dem Stadtteil sein, in dem sie aufgewachsen war. Heute ist Hildebrandt 42, Mutter von drei Söhnen und lebt immer noch „in einem der schönsten Stadtteile Kassels“, wie sie Forstfeld nennt: „Es ist total vielfältig hier. Man ist nah an der Innenstadt und trotzdem viel im Grünen. Und es ist wahnsinnig viel im Wandel.“ Den Wandel gestaltet die Frau, die Sozialwesen studiert hat, als parteilose stellvertretende Ortsvorsteherin mit. Es gibt wirklich viel, was sich gerade hier verändert.

Die Mitte

Forstfeld ist ein Stadtteil mit Handicaps, wie der Stadtplaner Christian Kopetzki sagt: „Es gibt keine historische Identität. Indem man Waldau und Bettenhausen Teile abknapste, entstand hier ein Retortenstadtteil, der seine Identität erst finden musste.“ Wo heute fast 7200 Menschen leben, waren früher zum Teil Militärübungsplätze. Die Arbeiter der nahen Fabriken lebten in einfachen Siedlungen. Heute ist Forstfeld vor allem bei Familien beliebt. Stadtbaurat Christof Nolda (Grüne) nennt Forstfeld „ein städtisches Siedlungsgebiet von hoher Qualität“.

Diese Entwicklung ist angesichts der Historie keine Selbstverständlichkeit. Anders als etwa Bettenhausen gibt es in Forstfeld keinen historisch gewachsenen Ortskern. „Es fehlt ein Ort, wo man sich trifft und an dem sich jeder wohlfühlt“, sagt Hildebrandt. Die Gestaltung der neuen Mitte am Forstbachweg, wo früher die Heinrich-Steul-Schule stand, ist derzeit das wichtigste Thema im Stadtteil. Unter der Beteiligung der Bewohner soll hier etwas Großes entstehen.

Die Siedlung

Hildebrandt wohnt nicht weit entfernt von der neuen Mitte, wo einmal das Herz des Forstfelds schlagen soll. Mit ihrer Familie und ihren Eltern lebt sie in der sogenannten Afrika-Siedlung, die ihren Namen den Straßen dort verdankt: Togo-, Windhuk-, Wißmann- und Lüderitzstraße erinnern an deutsche Kolonien und Kolonialherren. Seit Langem wird diskutiert, ob das noch zeitgemäß ist. Die Straßen sollen nun mit Erklärtafeln ergänzt werden.

Hildebrandt wäre offen für eine Umbenennung. Sie sagt nur noch „städtische Siedlung“ und nicht mehr „Afrika-Siedlung“, wie es viele hier nach wie vor tun: „Der Ruf ist zu unrecht schlecht. Wenn man hier wohnt, hat man eine andere Sicht auf die Dinge. Viele sagen mit Stolz, woher sie kommen. Deswegen verwenden sie den alten Begriff.“

Der Lindenberg

Im Osten liegt der Lindenberg, von dem man auf den Rest des Stadtteils hinunterschaut. Früher galt das auch im übertragenen Sinn. Hildebrandt erinnert sich, dass es in ihrer Schulzeit Klassenkameraden gab, die hier oben lebten und zum Spielen nicht in die städtischen Siedlungen durften. Heute ist es hier trotz der nahen A 7 idyllisch. Es gibt einen schönen Spielplatz, und die Seniorenwohnanlage ist ein Platz, an dem man gern alt werden möchte. Auf dem Gelände der ehemaligen Molkerei sind Reihenhäuser entstanden, die Familien angezogen haben.

Das weiße Schloss

Für Auswärtige besteht die Heinrich-Steul-Siedlung nur aus anonymen Hochhäusern. Die Forstfelder nennen die Anlage an der Heinrich-Steul-Straße dennoch „weißes Schloss“ – wegen der weißen Fassade. Schon seit 2013 saniert die GWG die Steul-Siedlung. Die fertigen Häuser sehen immer noch nicht aus wie ein Schloss, aber doch ganz adrett.

Die Bewohner hier sind multikulti. Manch Alteingesessener beschwert sich über Müll, der weggeschmissen wird. Aber das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen bietet auch Chancen, wie man direkt nebenan im Forstfeld-Garten sehen kann. Das Urban-Gardening-Projekt des Vereins Essbare Stadt integriert Flüchtlinge und bietet neben einem ehemaligen Pavillon der documenta 13 auch eine Kulturbühne.

Auch am Wahlebach, der beim Hochwasser 2019 zahlreiche Straßen überflutete, gibt es viel grüne Idylle. Aber an Kultur und Gastronomie mangelt es im Forstfeld. Es gibt zwei Bäcker und eine Dönerbude. „Wenn man Essen gehen will, muss man raus aus dem Stadtteil“, sagt Hildebrandt.

Die Rechten

Im Juli 2019 reisten Reporter aus der ganzen Republik in den Stadtteil. Sie wollten das Haus sehen, in dem der Mörder des Regierungspräsidenten Walter Lübcke lebte. Der mittlerweile verurteilte Neonazi Stephan Ernst machte Forstfeld bekannter, als es den Forstfeldern lieb war. Auch für Hildebrandt war es „super erschreckend“, dass so jemand jahrelang hier lebte, wo die Welt doch in Ordnung schien. Dabei gab es Neonazis auch schon früher. Hildebrandt erinnert sich, dass sie schon als Kind Reichskriegsflaggen im Quartier sah und rechtsradikale Musik aus fremden Wohnungen hörte. Auch deswegen engagiert sie sich.

Ein positives Beispiel, wie man auf Hass und Hetze reagieren kann, ist das Graffiti-Haus in der Windhukstraße, in dem minderjährige Flüchtlinge ein Zuhause finden. Nachdem Unbekannte die Wand 2017 mit Hakenkreuzen beschmiert hatten, machten der Verein Kolor Cubes und der Münchner Graffiti-Künstler WON ABC daraus ein buntes Gemälde mit Peace-Zeichen. Aus einem Hakenkreuz ist eine Geburtstagstorte geworden. (Matthias Lohr)

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