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Buch veröffentlicht: So blickten vier Japaner 1964 auf Kassel

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Von: Christina Hein

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Die vier japanischen Studenten Fumio Ito, Keizo Takizawa, Noriyoshi Nonaka und Katsuhiko Sato, (von links) erkundeten 1964 Westdeutschland und Berlin ( Foto).
Studienreise: Die vier japanischen Studenten Fumio Ito, Keizo Takizawa, Noriyoshi Nonaka und Katsuhiko Sato, (von links) erkundeten 1964 Westdeutschland und Berlin ( Foto). In Kassel machten sie Ende April Station. Jetzt ist das Buch zur Reise erschienen. © Iudicium-Verlag

Eine Begegnung vor 57 Jahren zwischen der Kasselerin Hildegard Spitzer und vier jungen Japanern hat eine fabelhafte Wiederbelebung mit überraschender Pointe bekommen.

Kassel - „Es ist unglaublich, welche Kapriolen das Leben spielen kann“, sagt die heute 74-Jährige und erzählt eine verblüffende Geschichte. Es war 1964, das Jahr der Olympischen Spiele in Tokio, als vier japanische Deutsch-Studenten, Keizo Takizawa, Katsuhiko Sato, Noriyoshi Nonaka und Fumio Ito, eine mehrmonatige Deutschlandreise unternahmen. Quer durch die Republik klapperten sie 64 Ortschaften ab, inklusive Kassel. Takizawa verfasste ein Tagebuch.

Die Studenten der Tokioter Waseda-Universität begannen ihre Reise mit Fahrrädern, wechselten dann aber, Anfang April, zum VW-Käfer. „Der von uns erworbene Volkswagen ist ein Modell aus dem Jahr 1955 und kostet 1400 Mark. Hinzu kommen 200 Mark für die Versicherung“, notierte Takizawa: „Mit Ito am Steuer und der Sicherheit Vorrang gebend, bewegen wir uns zunächst mit nur 60 Kilometern pro Stunde vorwärts. Die Straßen sind hervorragend, und die Leistung des Wagens ist gut.“

Hildegard Spitzer, Kassel
Hildegard Spitzer © Scherb-Pflüger, Ulrike

Das Ansinnen der Männer war es, Deutschland kennenzulernen und gleichzeitig an den Orten, wo sie Station machten, Vorträge über ihr Heimatland Japan zu halten.

Diesem Vortrag in der Aula ihrer Schule lauschte am Donnerstag, 30. April, 1964 auch die damalige Heinrich-Schütz-Schülerin Hildegard Koch, heute Spitzer. Takizawa protokollierte alles, sogar die Uhrzeit, 11.30 Uhr: „An der Heinrich-Schütz-Schule hielten wir vor 30 Schülerinnen einen zweistündigen Vortrag. Danach fühlten wir uns regelrecht einer Autogrammjagd ausgesetzt.“

Auch Hildgegard luchste den Japanern, die nur wenige Jahre älter waren als sie, Autogramme ab. „Als Schülerin und auch später noch führte ich ein Album, in dem ich von allen Menschen, die ich traf, Unterschriften und manchmal auch persönliche Angaben erbat. Dieses Buch ist mir heute ein wertvoller Besitz geworden.“

Autogramme von Japanern im Album von Hildegard Spitzer.
Autogramme: Die japanischen Reisenden haben sich im Album von Hildegard Spitzer verewigt. © Privat

Die Studenten hatten sich im Album auch in japanischer Schrift verewigt. Daran erinnerte sich Hildegard Spitzer jetzt bei einem Gespräch mit ihren 12 und 13 Jahre alten Enkelinnen, beide Fans von japanischen Mangas, Animes und Connichi. „Wartet mal, ich hab’ da was“, sagte die Großmutter und kramte das Album hervor. Sie fragte sich: „Was die vier Japaner heute wohl machen?“

Die Google-Anfrage ergab eine große Überraschung: Alle vier tauchten sofort „im Paket“ im Zusammenhang mit einem Buch auf, das erst 2021 veröffentlicht worden war: „1964 - Vier japanische Studenten erkunden Westdeutschland“, basierend auf den Tagebuchaufzeichnungen Keizo Takizawas. Auch Kassel ist darin eine Textpassage gewidmet.

Hildegard Spitzer ging einen Schritt weiter. Über den Verlag nahm sie Kontakt zu Takizawa auf. Der habe sich riesig gefreut. Es sei ein netter E-Mail-Kontakt auch zu Katsuhiko Sato entstanden. Hildegard Spitzer erfuhr, dass Fumio Ito verstorben war und dass Sato – mit 80 Jahren – gerade eine Doktorarbeit über deutsche Fachhochschulen verfasst. Sie baten Spitzer, ob sie Erkundungen über ihre Kasseler Gastfamilen Gunkel und Fricke, wo sie seinerzeit so herzlich aufgenommen worden waren, einholen könne. Ein Foto der beiden Familien, vor der HSS in Position gestellt, ist sogar im Buch abgebildet.

Die Kasseler Familien Fricke und Gunkel – hier vor der Heinrich-Schütz-Schule – beherbergten die Studenten 1964. Vierter von links vorne ist Eckart Fricke.
Gastfreundlich: Die Kasseler Familien Fricke und Gunkel – hier vor der Heinrich-Schütz-Schule – beherbergten die Studenten 1964. Vierter von links vorne ist Eckart Fricke. © Iudicium Verlag

Hildegard Spitzer entnahm dem HNA-Archiv, dass beide Familienväter, die Lehrer Gerhard Fricke und Erich Gunkel, verstorben waren. Nach einigen Recherchen stieß Spitzer auf eines der Kinder, das auf dem Familienfoto zu sehen ist, Eckart Fricke, ein Enkel des bekannten Stadtschulrats August Fricke, nach dem auch eine Schule in Kassel benannt wurde. Sie kontaktierte ihn. Er reagierte erfreut. Tatsächlich: Eckart Fricke konnte sich noch gut an die japanischen Gäste erinnern.

„Aber jetzt“, so Spitzer, „kommt der Clou: Eckart Frickes Sohn Hans Henrik, ein Architektur-Student, lebt in Tokio, wo er an seiner Doktorarbeit schreibt.

Keizo Takizawa (links) und Katsuhiko Sato trafen kürzlich Hans Henrik Fricke in Tokio. 2
Austausch: Keizo Takizawa (links) und Katsuhiko Sato trafen kürzlich Hans Henrik Fricke in Tokio. 2 © Privat

Es wäre nicht die detektivische Networkerin Hildegard Spitzer, wenn sie nicht sofort Verbindungen hergestellt und ein Treffen Hans Henrik Frickes mit Takizawa und Sato in Tokio arrangiert hätte. Zufrieden sagt sie: „Und so schließt sich auf wunderbare Weise ein Kreis, der 1964 in Kassel seinen Anfang genommen hat.“

Über Kassel schreibt Keizo Takizawa 1964 in seinem „Tagebuch einer Forschungs-Rundreise“ (Auszug):
„Kassel soll im Krieg vollständig zerstört worden sein, macht auf uns jetzt aber den Eindruck einer sehr erfolgreich wieder aufgebauten Stadt. Man spürt bei den Leuten einen Schaffensdrang, hin zu neuem kulturellen Leben. Darüber hinaus gibt es viel prächtige Natur in dieser Stadt. Im Park Wilhelmshöhe ist die Herakles-Statue umgeben von sprießendem Grün, das im leichten Regen besonders intensiv leuchtet.“

Angaben zum Buch: Keizo Takizawa: 1964. Vier japanische Studenten erkunden Westdeutschland, Iudicium Verlag München, 252 Seiten, 19,80 Euro.

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