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Kinderpsychologe aus Kassel wird deutlich: „Kita-System steht vor dem Kollaps“

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Von: Katja Rudolph

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Der Kasseler Kinderpsychologe Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff spricht im Interview über die Folgen von Corona und erklärt, warum das Kita-Personal mit dem Rücken zur Wand steht.

Sie sagen, das Kita-System steht vor einem Zusammenbruch. Woran machen Sie das fest?

Die Zahl der psychisch belasteten Kinder ist in der Coronazeit von 20 auf 30 Prozent gestiegen, auch bedingt durch die Pandemie. Hinzu kommt, dass durch den Personalmangel die Belastung der pädagogischen Fachkräfte immer weiter zunimmt. Bis zum Jahr 2025 werden bundesweit mindestens 180 000 Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen fehlen. Wenn zu wenig Personal da ist, steigt die Belastung für die Fachkräfte, die da sind – so kommt das Team schnell in eine Erschöpfungsspirale. Laut Statistik sind Erzieherinnen um ein Drittel häufiger krank als Frauen aus anderen Berufen. Sie spüren eine große Verantwortung für die Kinder und Familien. Daher gehen sie oft über ihre Grenzen und ziehen nicht rechtzeitig die Reißleine.

Warum hat sich die Situation zugespitzt?

Die Entwicklung verfolgen wir seit Jahren, durch Corona hat sie sich aber nochmal verdichtet. In der Pandemie hat das sonst geordnete System Kita viele Unsicherheiten erlebt: Machen wir auf? Wie viele Kinder kommen überhaupt? Einige Kinder waren auch über Lockdowns hinaus lange zuhause und haben in ihrer sozialen Entwicklung Nachholbedarf. Wir sprachen schon von den psychischen Auffälligkeiten. All das bedeutet erhöhte Anstrengungen für die Fachkräfte.

Sie sagen, die Kita-Krise hat sich schon vor Corona angebahnt. Wodurch?

Das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung hat in den vergangenen 20 Jahren quantitativ und qualitativ eine enorme Entwicklung genommen. Der Rechtsanspruch auf U3-Betreuung etwa und verlängerte Öffnungszeiten von Kitas haben für einen riesigen Fachkräftebedarf gesorgt. Auch qualitativ hat sich viel Positives getan. Es gibt Bildungspläne für den Kita-Bereich in allen Bundesländern. Die Kita ist nicht mehr nur Betreuungsort für Kinder, sondern wird als Teil des Bildungssystems begriffen. Auch für viele Eltern ist sie Anlaufstelle bei Erziehungsfragen. Aber es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was man an Anforderungen an das System stellt und was man gleichzeitig an Ressourcen hineingesteckt hat.

Kasseler Kinderpsychologe: „Um Integration und Inklusion zu gewährleisten, braucht es Ressourcen“

Im Appell ist von der Gefahr die Rede, dass Kitas wieder zu reinen Aufbewahrungsstätten werden. Woran macht sich Betreuungsqualität fest?

In einer guten Kita wird auf das einzelne Kind und seinen Entwicklungsbedarf genau geachtet und bedürfnisgerecht darauf reagiert. Das einzelne Kind steht im Mittelpunkt, aber eben im Rahmen des Gruppengeschehens. Dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte die Zeit und die Qualifikation haben. Dabei ist es auch wichtig, zu bedenken, dass Kitas Orte sind, wo Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen. Darin steckt eine riesige Chance, für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sorgen. Um Integration und Inklusion zu gewährleisten, braucht es aber Ressourcen.

Woran erkennen Eltern die Qualität einer Einrichtung? Nur am Betreuungsschlüssel?

Es gibt, grob gesagt, drei Kennzeichen. Die Fachkraft-Kind-Relation ist eins davon. Im U3-Bereich sollte sie bei 1:3 liegen, im Ü3-Bereich bei 1:7. Außerdem ist die Qualifikation der Betreuungskräfte wichtig: Alle sollten eine pädagogische Ausbildung haben. Und drittens sollte jede Kita ein Konzept haben, das nicht nur auf dem Papier steht, sondern gelebt und regelmäßig hinterfragt wird. Das Problem ist: Wenn in Notsituationen zu wenige Fachkräfte da sind, wird nicht nur der Betreuungsschlüssel gelockert. In den östlichen Bundesländern ist der Mangel besonders groß, da ist im U3-Bereich zum Teil eine Fachkraft für sieben und mehr Kleinstkinder da. Aber auch die Qualifikationsanforderungen werden in der Not mitunter aufgeweicht.

Inwiefern?

Da werden dann Menschen als Kita-Helferinnen eingestellt, die nur teilweise oder gar nicht pädagogisch ausgebildet sind. Man macht einen 20-Tage-Kurs und dann ist die Hilfskraft zuständig für die Kinder – im Ernstfall ja auch allein, wenn die Fachkraft fehlt. Sogar nicht ausgebildete Wickelhelferinnen sind im Gespräch. Das halte ich für grob fahrlässig. Solche Hilfskräfte stellen vielleicht kurzfristig eine Entlastung, aber langfristig eine Belastung dar. Nicht nur, weil wegen einer höheren Fluktuation als im professionellen Bereich immer wieder neues Personal von den wenigen Fachkräften angelernt werden muss. Auch für die Qualität der Betreuung ist das ein Eigentor.

Kasseler Kinderpsychologe kritisiert fehlende Wertschätzung für Kita-Personal

Drückt sich darin auch fehlende Wertschätzung für den Beruf Erzieherin aus?

Dahinter steht das Denken: Mit Kindern spielen kann doch jeder. Niemand käme auf die Idee, dass ein Laie nach 20 Tagen Schulung einen Motor reparieren kann. Pädagogische Fachkräfte durchlaufen nicht ohne Grund vier bis fünf Jahre Ausbildung. Tatsächlich ist da nicht viel zu delegieren im Kita-Alltag: Auch das Wickeln und gemeinsame Aufräumen sind pädagogische Momente, in denen die Beziehung eine Rolle spielt. Hilfreich wäre es allerdings, dem Kita-Personal Verwaltungskräfte an die Seite zu stellen oder die Arbeit zu de-bürokratisieren. Es ist ein riesiges Mehr an Bürokratie entstanden in den vergangenen Jahren. Dafür werden Kapazitäten gebunden, die in der Arbeit mit den Kindern dann fehlen.

Wie schätzen Sie die Situation in Kassel ein?

Nach allem, was ich mitkriege, sind auch hier nicht alle Stellen besetzt. Aber Kassel hat einen großen Vorteil: Es hat ein eigenes Amt für Kindertagesbetreuung. Für die Kompetenz zur Steuerung des Systems ist so eine zentrale Instanz gut. Das merkt man sofort, wenn man mit den zuständigen Personen spricht. Auch im Bereich der freien Träger gibt es mit dem Dachverband Dakits eine zentrale Anlaufstelle. Kassel ist ein positives Beispiel, wie man Strukturen schaffen kann, die unterstützend sind.

Sie schlagen in dem Papier eine Einschränkung von Kita-Öffnungszeiten als kurzfristige Maßnahme vor. Denken Sie gar nicht an die Eltern?

Die Frage ist: Was wollen wir denn sonst machen? Wenn am Flughafen die Koffer nicht transportiert werden, weil das Personal fehlt, leuchtet das jedem ein. Aber in der Kita soll man einfach weitermachen unter prekären Bedingungen, obwohl dort mit Kindern gearbeitet wird? Sicher ist der Vorschlag mit den Öffnungszeiten ein Stück weit provokativ. Wir müssen auch die Eltern auf die Straße bringen, damit der Druck auf die Politik steigt. Aber natürlich muss in erster Linie für Entlastung in den Kitas gesorgt werden, damit die Eltern tagsüber ihren Job machen können.

Liegt der Fachkräftemangel auch daran, dass der Beruf nicht attraktiv genug ist?

Der Fachkräftemangel liegt vor allem daran, dass man nicht genügend Ausbildungskapazitäten geschaffen hat. Interesse an dem Beruf gibt es schon. Die Arbeitszufriedenheit unter Erzieherinnen ist mit 75 bis 80 Prozent vergleichsweise hoch. Sie sind zufrieden mit der eigentlichen Arbeit mit den Kindern, aber die Arbeitsbedingungen sind schlechter geworden. Auch die finanziellen Bedingungen sind gewiss noch verbesserungswürdig. Aber bei der Bezahlung und auch bei Aufstiegsmöglichkeiten hat sich in letzter Zeit einiges getan.

Der Kinderbonus wird schrittweise ausgezahlt.
Pädagogisches Fachpersonal ist rar: Viele Kita-Träger suchen Personal. Seit der Pandemie hat sich auch der hohe Krankenstand unter den Beschäftigten zugespitzt. (Symbolfoto) © Axel Heimken/dpa

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff aus Kassel: „Das Personal steht mit dem Rücken an der Wand“

Was also tun, um mehr Kita-Personal zu gewinnen?

Bewährt hat sich eine praxisintegrierte Ausbildung, bei der man bereits arbeitet und bezahlt wird. Damit kann man auch Menschen aus anderen Berufen und mehr Männer gewinnen. Gleichzeitig braucht es gesamtgesellschaftlich mehr Wertschätzung für die Arbeit mit kleinen Kindern. Schließlich werden in den Kitas die Weichen für die weitere Bildungsentwicklung von Kindern gestellt.

Sie haben den Appell auf den Weg gebracht. Gab es einen konkreten Auslöser?

Für die Evaluation des Gute-Kita-Gesetzes, mit der ich und mein Team an der Evangelischen Hochschule Freiburg beauftragt sind, bin ich viel unterwegs bundesweit – auch in Kitas. Immer wieder wird dabei die schwierige Situation deutlich. Das Personal steht sprichwörtlich mit dem Rücken an der Wand. Die Wissenschaft kann doch nicht nur zugucken und analysieren. Wenn ich so etwas als Wissenschaftler sehe, muss ich mich auch positionieren.

Das Interview führte Katja Rudolph.

Für junge Eltern in Kassel gibt es in Sachen Kitas auch gute Neuigkeiten: „Kibeka“ heißt das neue Online-Portal der Stadt Kassel, welches das Anmeldeverfahren auf dem Weg zu einem Kitaplatz vereinfacht. 

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