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Dirk Neumann aus Kassel wird 100: Vorreiter auf dem Rad und im Gerichtssaal

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Von: Ulrike Pflüger-Scherb

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Er wird heute 100 Jahre alt: Dirk Neumann war Vizepräsident des Bundesarbeitsgerichts in Kassel und Präsident des Landesarbeitsgerichts in Sachsen.
Er wird heute 100 Jahre alt: Dirk Neumann war Vizepräsident des Bundesarbeitsgerichts in Kassel und Präsident des Landesarbeitsgerichts in Sachsen. © Pia Malmus

Dirk Neumann, Vizepräsident des Bundesarbeitsgericht a.D., feiert am 26. April seinen 100. Geburtstag. Bis vor zehn Jahren fuhr Neumann noch mit dem Fahrrad durch Kassel.

Kassel – „Ich habe mich doch gar nicht verändert“, sagt Dirk Neumann mit einem charmanten Lächeln. Der promovierte Bundesrichter a.D. sitzt im Foyer des Augustinum und zeigt auf einen Zeitungsartikel vom 22. Februar 1973. Damals wurde in der Kasseler Stadtausgabe darüber berichtet, dass Neumann, der im Knüllweg in Helleböhn wohnte, jeden Tag mit dem Rad zu seinem Arbeitsplatz in das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Graf-Bernadotte-Platz fährt.

Damals war Neumann 50 Jahre alt und trug eine Baskenmütze. Solch eine Kopfbedeckung trägt er immer noch gern. Heute feiert Dirk Neumann seinen 100. Geburtstag.

Mittlerweile ist es für viele Menschen ganz normal, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. 1973 war das noch anders. Neumann war seiner Zeit weit voraus. So weit, dass über ihn wegen des Fortbewegungsmittels sogar ein Artikel geschrieben wurde.

Allerdings bekam Neumann damals oft zu spüren, dass der innerstädtische Verkehr in Kassel kaum auf Radfahrer eingestellt war. 1973 erzählte er dem Reporter, dass er auf dem Heimweg sein Rad auf einem schmalen Straßenstück schieben müsse, weil die Steigung zu groß sei. Bei Gegenverkehr sei es nämlich häufig vorgekommen, dass der Omnibus im Schritttempo hinter ihm herfahren musste, weil er an Neumann nicht vorbeigekommen sei. Kollegen, die im Bus saßen, hätten ihm erzählt, dass der Busfahrer deshalb über ihn geschimpft und gemutmaßt habe, dass er wohl kein Geld habe, sich ein Auto zu leisten.

Hier irrte der Busfahrer. Neumann konnte sich damals sehr wohl ein Auto leisten. Und er hatte auch eins.

Der 1923 in Glauchau (Sachsen) geborene Neumann war als Leutnant der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. 1946 sei er aus Dresden vertrieben worden, erzählt er. Das Haus seiner Eltern wurde von der SED enteignet. Eigentlich habe er als Sachse in Leipzig studieren wollen. „Ich war aber kein Arbeiterkind.“ Deshalb ging es für das Jurastudium nach Köln.

Allerdings habe er durch einen Professor immer die Möglichkeit gehabt, nach Sachsen zu fahren. Dort lernte er auch seine spätere Frau Erna kennen. Nach dem Studium arbeitete Neumann als Richter am Arbeitsgericht Köln und am Landesarbeitsgericht Düsseldorf. 1965 kam er ans Bundesarbeitsgericht nach Kassel, wo er den für Tarifstreitigkeiten zuständigen Vierten Senat leitete. 1986 wurde Neumann zum Vizepräsidenten des BAG ernannt. Als Neumann, der zwei Söhne und eine Tochter, acht Enkel und 14 Urenkel hat, 1990 in den Ruhestand verabschiedet wurde, hat er gesagt, dass er nie die Absicht gehabt habe, Vizepräsident des BAG in Kassel zu werden. Sein größter Wunsch sei es indes gewesen, Präsident des Landesarbeitsgerichts Sachsen zu werden. Dieser Wunsch sollte zeitnah erfüllt werden.

Nach der Wiedervereinigung wurden erfahrene und sensible Richter aus dem Westen beim Aufbau der Gerichte im Osten benötigt. So wurde Neumann 1991 zum Richter am Bezirksgericht Leipzig ernannt. Er baute Arbeitsgerichte in sechs sächsischen Städten auf. Und 1992 wurde er Präsident des LAG in Chemnitz. Mit 70 wurde Neumann dann zum zweiten Mal pensioniert. Aber nur, um einen Tag später eine neue Aufgabe anzunehmen. Sachsens damaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf beauftragte den Juristen damit, bei dem Entwurf für ein Arbeitsvertragsgesetz mitzuarbeiten. 1995 wurde dieser Entwurf in den Bundesrat eingebracht, aber bis heute nicht verabschiedet. „Gewerkschaften und Arbeitgeber können sich seit knapp 30 Jahren nicht darauf einigen“, sagt Neumann.

Für seine Verdienste wurde Neumann unter anderem mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Noch heute fährt er regelmäßig nach Dresden, wo er das Haus seiner Eltern nach der Wiedervereinigung zurückbekommen hat. Neumann und seine Frau zogen vor rund 20 Jahren ins Augustinum. Allerdings lebten sie dort nicht lange zusammen. Vor 18 Jahren starb seine Frau, die 1923 nur acht Tage vor ihm geboren wurde, unerwartet.

Bis er 90 Jahre alt war, fuhr Dirk Neumann mit dem Fahrrad zum Westfriedhof, um die Gräber seiner Frau und der Schwiegereltern zu besuchen. Der Hinweg sei kein Problem gewesen, erzählt er. Da ging es nur bergab. Der Rückweg war umso beschwerlicher. Ab der Feuerwehr auf der Heinrich-Schütz-Allee musste er das  Rad schieben.

Bis er 75 Jahre alt war, unternahm Neumann mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder und einem Freund Reisen in die Himalaja-Region. Dort wanderten die Männer insgesamt 15 Mal in Höhen zwischen 5000 und 6000 Metern. „Für einen Schritt brauchte man zwei Atemzüge“, erinnert sich Neumann. Mittlerweile hält sich der 100-Jährige mit Gymnastik fit. Zwei Mal in der Woche werde das im Augustinum angeboten. Zudem mache er im Sitzen jeden Morgen um 7.20 Uhr bei der Gymnastik im Bayerischen Rundfunk mit, erzählt Neumann.

Seinen Geburtstag feiert er mit dem engsten Familienkreis in Kassel. Am Wochenende geht es dann nach Köln, wo das Gros seiner Familie lebt. Eigentlich wollte er ein Boot mieten und mit allen Gästen auf der Elbe in Dresden fahren. Seine Kinder hätten aber gesagt, dass sie für seinen 100. Geburtstag nicht durch ganz Deutschland fahren wollten, sagt Neumann mit einem Augenzwinkern. Und so feiert er eben mit 60 Gästen auf dem Rhein. (Ulrike Pflüger-Scherb)

Er sorgte für Aufsehen: Am 22. Februar 1973 erschien dieser Artikel über den radelnden Bundesrichter.
Er sorgte für Aufsehen: Am 22. Februar 1973 erschien dieser Artikel über den radelnden Bundesrichter. © Verlag Dierichs

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