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Kasseler Politik-Professor: „Waffenlieferungen an Ukraine sorgen für noch mehr Opfer“

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Von: Matthias Lohr

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Der ehemalige Kasseler Politik-Professor Werner Ruf.
Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine: Der ehemalige Kasseler Politik-Professor Werner Ruf hat einen Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz unterzeichnet, der nicht nur von Ukrainern kritisiert wird. © Privat

In einem Offenen Brief fordern Persönlichkeiten wie der Kasseler Politologe Werner Ruf einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine. Kritiker nennen die Unterzeichner „Putin-Versteher“.

Kassel – Mehrere Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur fordern in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Die Regierung in Kiew soll zudem ermutigt werden, den militärischen Widerstand aufzugeben, um einen Waffenstillstand mit Russland zu ermöglichen. Unterzeichnet wurde der Brief etwa vom ehemaligen Kasseler Politik-Professor Werner Ruf, Liedermacher Konstantin Wecker und der Ex-Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), deren Wahlkreis Kassel war. Die Forderungen stoßen vor allem bei Ukrainern auf Kritik. Wir sprachen mit dem Politologen Ruf (84), der sich als Experte für internationale Beziehungen einen Namen gemacht hat.

Wieso wollen Sie verhindern, dass sich die Ukrainer gegen die russischen Aggressoren verteidigen?

Weil ich mich frage, ob es überhaupt noch um Verteidigung geht. Das Ziel von schweren Waffen wie Panzer und Artillerie ist Angriff und Zerstörung. Nichts schießt so undifferenziert wie die schwere Artillerie. Der Einsatz von solchen Waffen sorgt nur für noch mehr Flüchtlinge und noch mehr Opfer in der Zivilbevölkerung. Dabei sollte es darum gehen, dass das Morden endlich aufhört.

Sie fordern die Ukrainer auf, den militärischen Widerstand zu beenden und mit Russland zu verhandeln. Wie soll das funktionieren bei einem Diktator wie Putin?

Das muss man ihn fragen. Der Widerstand gegen Putin in Russland ist mindestens so groß, wie er in den Medien gezeigt wird. Die Russen wollen keinen Krieg. Ukraines Präsident Selenskyj hat ja gesagt, eine Neutralität seines Landes sei möglich. Also brauchen wir schnell einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Wenn man will, findet man immer einen Weg, um zu verhandeln. Nur so ist eine Deeskalation möglich.

Viele Ukrainer haben mit Wut auf Ihren Brief reagiert. Ist es nicht anmaßend, einem Volk, das ums Überleben kämpft, aus dem sicheren Deutschland Ratschläge zu geben?

„Ums Überleben kämpfen“ – das hört sich so einfach an, aber wer überlebt am Schluss? Ich finde auch, man darf sehr wohl Ratschläge geben, wenn man damit Frieden und ein Ende des Mordens herbeiführen kann. Im Übrigen ist die Ukraine kein homogener Staat. In der Ostukraine gibt es massenhaft Menschen, die sich als Russen identifizieren. Sie leiden seit Jahren darunter, dass sie vielfach diskriminiert werden, Russisch keine Amtssprache mehr ist und sie in ihrer Sprache nicht mal mehr Formulare ausfüllen können. Dabei haben zahlreiche Länder mehrere Amtssprachen. Warum nicht die Ukraine? Auch damit begann der Konflikt 2014.

Das rechtfertigt aber niemals einen Angriffskrieg.

Natürlich nicht. Aber die Vorgeschichte kann nicht außer acht gelassen werden.

Welche Reaktionen haben Sie auf den Brief bekommen?

Eigentlich nur positive. Übrigens ebenso wie auf einen Vortrag, den ich Anfang März im Kasseler Friedensforum gehalten habe. Unter dem Titel „Hätte der Krieg in der Ukraine verhindert werden können?“ wurde der Mitschnitt bei Youtube bisher mehr als 86.000 Mal angeklickt.

Ukraines Präsident Selenskyj wünscht sich aber keine gut gemeinten Friedensbotschaften, sondern Waffen. Wie groß ist unser moralisches Dilemma?

Kriege haben nie etwas mit Moral zu tun. Der SPD-Politiker Egon Bahr hat kurz vor seinem Tod vor Heidelberger Schülern gesagt: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Auch hier geht es um geostrategische Interessen. Die USA haben die Nato bis nach Russland ausgebaut. Das sind keine friedensschaffenden Maßnahmen. Warum hat man nach dem Ende des Kalten Krieges nicht die Vision eines gemeinsamen Hauses Europa vom Atlantik bis zum Ural verfolgt? Man hätte auch die Nato auflösen können, nachdem es den Warschauer Pakt nicht mehr gab. Die USA hatten daran aber kein Interesse. Ihre Kontrolle über Europa wäre kleiner geworden.

Haben Waffenlieferungen nicht auch geholfen, Hitler-Deutschland zu besiegen?

Das ist richtig. Die Nazi-Barbarei war bisher die einzige Ideologie, die Völkermord zu ihrem Programm gemacht und das auch umgesetzt hat. Und nicht nur gegenüber den Juden und Sinti und Roma, sondern auch gegenüber den „slawischen Untermenschen“. Wie anders hätten sie sonst 27 Millionen Menschen in Osteuropa umbringen können? Gerade deshalb können wir nicht alles mit Hitler vergleichen. Ich habe so viele Hitler in meinem Leben erlebt: den echten Hitler, den Hitler vom Nil, wie Gamal Abdel Nasser genannt wurde, den Hitler von Bagdad und den Hitler von Belgrad. Es geht in der internationalen Politik nicht um Personen und Psychologie, sondern um Interessen von Staaten. Darum gilt: Wenn wir Menschenrechte schützen wollen und das oberste Menschenrecht, das Recht auf Leben, sollten wir vermeiden, Waffen zu verteilen.

In Ihrem Brief wird der russische Angriff zwar verurteilt, es wird aber vermieden, die russischen Verantwortlichen für Gräueltaten wie etwa in Butscha zu nennen. Zudem würden rote Linien auf beiden Seiten überschritten. Was entgegnen Sie, wenn Kritiker die Unterzeichner als Putin-Versteher bezeichnen?

Butscha ist eine nicht so eindeutige Geschichte. Warum hat man nicht sofort eine internationale Untersuchungskommission einberufen? Das hätte man nach den Erfahrungen im Kosovo-Konflikt unbedingt tun müssen. Die Bilder des angeblich von Serben verübten Massakers von Racak gingen kurz vor dem Kriegseintritt der Nato gegen Serbien um die Welt. Später wurde klar, dass es sich um eine Inszenierung gehandelt hat. Ich will die Russen nicht freisprechen, aber die Ukraine müsste ein hohes Interesse haben, Butscha aufzuklären.

Sind Sie ein Putin-Versteher?

Nein, nicht in der derzeitigen Benutzung des Begriffs. Ich halte es mit der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, die gesagt hat: Verstehen heißt nicht nur Verständnis und Solidarität. Primär geht es darum, Dinge zu hinterfragen, in ihren Zusammenhang zu setzen und zu begreifen. Das ist für mich Verstehen.

Waren Sie beim Kasseler Ostermarsch?

Nein, ich war aus gesundheitlichen Gründen verhindert.

Dort rechtfertigte der Schauspieler Rolf Becker den Angriff Russlands als „eine strategisch erzwungene Verteidigungsmaßnahme zum Vorteil der USA.“ Zudem zitiert er den Schweizer Militärexperten und früheren Oberst Jacques Baud mit dem Satz, dass die Zivilisten in Butscha „sehr wahrscheinlich nicht von russischen Soldaten getötet“ wurden. Dafür bekam er ordentlich Applaus. Hätten Sie auch applaudiert?

Wenn es so war, wie Sie es hier darstellen, hätte ich wahrscheinlich nicht applaudiert. Trotzdem muss man nachdenken dürfen, ohne als „Putin-Versteher“ im obigen falschen Sinne kritisiert zu werden. Welches Interesse hätte Russland, solche Massaker zu verüben?

Wie groß ist Ihre Sorge vor einem Dritten Weltkrieg?

Sehr groß. Beim Nato-Treffen am 22. März in Brüssel wurde deutlich, dass das westliche Militärbündnis auf eine weitere Eskalation setzt. Die Lieferung von schweren Waffen könnte ein solches Eskalationsmoment sein, das die Welt näher an einen Atomkrieg bringt. Man sollte nicht austesten, wie weit man gehen kann.

Kann es mit jemandem wie Putin überhaupt Frieden geben?

Das ist das Argument jener, die einen Regimewechsel initiieren wollen. Auch das ist völkerrechtlich verboten. Glauben Sie wirklich, dass alles wieder gut ist, wenn Putin weg ist? Danach könnten noch nationalistischere Kräfte an die Macht kommen. Es könnte einen Bürgerkrieg geben. Angesichts all der Waffen, die in Russland rumliegen, würde das die Welt nicht sicherer machen. Angst macht mir auch die Kriegsstimmung hierzulande.

Woran machen Sie die fest?

Etwa bei der vor allem von den Grünen geforderten Lieferung von schweren Waffen. Und an dem weitverbreiteten Denken, Frieden könne herbeigebombt werden. Dabei warnt selbst ein Militärexperte wie der ehemalige Merkel-Berater Erich Vad davor, dass genau dies die Lage eskalieren lassen könnte. Mit militärischen Mitteln kann man keinen Frieden machen. Das Denken in Gewalt und Gegengewalt steigert nur Gewalt, Nationalismus und Fanatismus. Hier frage ich mich, wie es sein kann, dass etwa Tschaikowsky-Opern abgesetzt werden. Sie wurden geschrieben, als es die Ukraine noch gar nicht gab. Und ein Münchner Krankenhaus weigert sich, russische Patienten aufzunehmen. Das kann doch alles nicht sein. Das ist hysterisch und politisch kontraproduktiv. (Matthias Lohr)

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