Kritik übt Geselle auch an Noldas Plänen, eine dauerhafte Reduzierung der nächtlichen Tempo-30-Höchstgeschwindigkeit auf Hauptstraßen anzuordnen. Grundsätzlich begrüße er dieses Vorhaben, so Geselle. Allerdings sei es derzeit so, wie von Nolda gedacht, „in weiten Teilen tatsächlich undurchführbar“. Auch in diesem Fall habe Nolda den Vorgang „unabgestimmt und völlig übereilt vorbereitet“ sowie die Beratung und Beschlussfassung „völlig unzuständiger Gremien“ in Aussicht gestellt.
Nolda weist die Vorwürfe zurück und sagt, er habe keine Kompetenzen überschritten, denn er habe bisher keine behördliche Anordnung gegeben. Es seien nur Pläne zum Verkehrsversuch erörtert worden im Sinne der Öffentlichkeitsbeteiligung. Zudem sei die Veröffentlichung von Amtsinterna kein guter Stil. Er lasse Geselles disziplinarrechtliche Vorwürfe juristisch prüfen.
Stochla war schon bis 2021 Verkehrsdezernent, hatte die Aufgabe aber nach Kritik etwa an der Umsetzung des Radwegeausbaus in den grün-roten Koalitionsverhandlungen verloren.
Warum darf ein Oberbürgermeister einen Dezernenten überhaupt von Aufgaben abberufen, wie es Christian Geselle bei Christof Nolda getan hat? Die Antwort: Weil Bürger-/Oberbürgermeister eine starke Stellung nach der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) einnehmen. Danach hat ein OB auch das Recht zur Dezernatsverteilung, nach der hessischen Kommunalverfassung hat er sogar „unbeschränkte Befugnis, die Geschäfte (Arbeitsgebiete, Dezernate)“ zu verteilen.
Um welche Aufgaben geht es beim Thema Verkehr im hauptamtlichen Magistrat eigentlich genau?
Verkehr ist in der Stadt Kassel kein eigenes Dezernat. Bislang hatte Christof Nolda das Dezernat VI für Stadtentwicklung, Bauen, Umwelt und Verkehr inne. Teil davon ist das Straßenverkehrs- und Tiefbauamt. Zu dessen Aufgaben gehören unter anderem die Verkehrsplanung und das Mobilitätsmanagement, die Planung, der Bau und die Unterhaltung von Straßen, Wegen, Plätzen, Brücken und Ingenieurbauten sowie das Verkehrsmanagement unter anderem durch Signalisierung, Parkleitsystem, Wegweisung oder Parkraumbewirtschaftung. Diese Aufgaben waren nach der Kommunalwahl 2021 von dem bis dahin für Verkehr zuständigen Dezernenten Dirk Stochla (SPD) an Nolda gegangen. Ob sie alle nun auf Weisung von OB Geselle wieder an Stochla zurückübertragen worden sind, blieb am Montag unklar.
Warum schaltet sich bei einem solchen Streit zwischen hauptamtlichen Magistratsmitgliedern nicht die Aufsichtsbehörde ein?
Zunächst einmal gilt der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung. Zwar ist das Regierungspräsidium Kassel (RP) unmittelbare Rechtsaufsichts- und Finanzaufsichtsbehörde über die Landkreise in Nordhessen und über die kreisfreie Stadt Kassel. Und zudem übt das RP auch die Dienstaufsicht über kommunale Wahlbeamte (wie Dezernenten) aus, kann als Kommunalaufsicht bei „interkommunalen Streitigkeiten“ zur Schlichtung aufgerufen werden. In den Konflikt zwischen dem Kasseler Oberbürgermeister und einem Dezernenten wird sich das RP jedoch nicht einmischen, zumal die gesetzliche Lage nach der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) wegen des Dezernatsverteilungsrecht eines Obürgermeisters klar ist. Für eine Schlichtung müsste die Dienstaufsicht erst von der Stadt angerufen werden, erklärt eine RP-Sprecherin. Im konkreten Fall sei dies aber nicht zu erwarten.
Was sagen Mitglieder des Ortsbeirats Mitte zum Streit um den Verkehrsversuch, den sie einstimmig beschlossen hatten?
Ortsvorsteherin Julia Herz (Grüne) ist sichtlich verärgert über Oberbürgermeister Geselle. „So wird die Arbeit der Ämter und des Ortsbeirats zunichte gemacht“, sagt die 25-Jährige, die trotzdem noch auf den „gut ausgearbeiten und kostengünstigen“ Verkehrsversuch hofft: „Dieser Versuch ist banal angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen.“ Dagegen verteidigt SPD-Mann Dieter Seidel seinen Parteifreund: „Der Oberbürgermeister ist zu recht verärgert über Christof Nolda.“ Offensichtlich habe der Dezernent den Verkehrsversuch nicht mit Geselle abgesprochen. Dies sei wohl schon Teil des bevorstehenden Wahlkampfs. „Das ist nicht okay“, sagt der 65-Jährige, der im Ortsbeirat in Abwesenheit von Sabine Wurst als einziger Sozialdemokrat wie alle anderen Mitglieder für den Versuch gestimmt hatte – weil er nicht gewusst habe, dass das Vorhaben nicht mit Geselle abgesprochen sei. Seidel ist selbst oft mit dem Rad oder Auto auf dem Steinweg unterwegs. Die Situation am Friedrichsplatz hält er für „echt verbesserungswürdig, weil sich Radfahrer und Fußgänger dort regelmäßig in die Quere kommen“. Er glaubt auch nicht, dass die Leistungsfähigkeit des Steinwegs dadurch wesentlich beeinträchtigt wird. Seidel wünscht sich aber, dass der Verkehrsversuch mit Ende der documenta vorbei ist.
Wie reagieren Verkehrsexperten auf Geselles Entscheidung zum Steinweg?
Carsten Sommer ist Professor für Verkehrsplanung an der Kasseler Uni und will Geselles Entscheidung nicht kommentieren. Der Wissenschaftler kritisiert aber „die hohe Trennwirkung für querende Fußgänger und Radfahrer, die die Aufenthaltsqualität im Straßenraum und auf dem Friedrichsplatz beeinträchtigt“. Eine Temporeduzierung, weniger Fahrstreifen für den Autoverkehr und zusätzliche Überquerungsmöglichkeiten könnten dieses Problem verringern. Wie die anderen Mitglieder des Klimaschutzrats wünscht sich Sommer mehr Verkehrsversuche in der Stadt Kassel. So habe das Experiment in der Unteren Königsstraße gezeigt, dass der Autoverkehr trotz der Sperrung der Straße nicht zusammengebrochen sei, aber dafür neuer Raum für Kommunikation und Aufenthalt entstanden sei: „Wenn man es ernst meint mit der Verkehrswende, muss man etwas ändern und dem Autoverkehr auch Platz wegnehmen. Anders geht es nicht.“
(Andreas Hermann, Bastian Ludwig und Matthias Lohr)