Vater missbrauchte Tochter 383 Mal: Warum hat der Täter schon Freigang?

Über Jahre hat ein Mann seine Stieftochter missbraucht. Drei Jahre nach seiner Verurteilung darf er die Haftanstalt in Kassel schon wieder stundenweise verlassen. Ein Fall, der Fragen aufwirft.
Ein Gerichtsfall aus dem Jahr 2015 rückt wieder in den Mittelpunkt: Ein damals 49-Jähriger wurde im Oktober jenen Jahres zu sechs Jahren Haft verurteilt, weil er seine adoptierte Stieftochter über Jahre missbraucht hat – das erste Mal, als das Kind acht Jahre alt war. Die Jugendschutzkammer des Landgerichts hatte ihn wegen schweren sexuellen Missbrauchs in einem Fall und sexuellen Missbrauchs in 383 Fällen verurteilt.
Etwas mehr als die Hälfte seiner Strafe hat der Mann nun verbüßt. Für Diskussionen innerhalb der Sozialtherapeutischen Anstalt (Sotha) in Wehlheiden und der Justiz sorgt er deshalb, weil er mittlerweile ohne jede Betreuung die Anstalt zeitweise verlassen darf.
Nach Informationen unserer Zeitung geht er regelmäßig diversen Freizeitbeschäftigungen nach. Er verlässt dann im Rahmen eines Ausgangs die Sotha allein und wird über Stunden nicht kontrolliert.
Solche vollzugsöffnenden Maßnahmen sind generell nicht ungewöhnlich, allerdings wundern sich nach HNA-Informationen sowohl Mithäftlinge als auch Kreise der Justiz über den Zeitpunkt und die Art der Haftlockerungen, zumal der Mann die Taten vor Gericht nicht gestanden hat und sie zumindest gegenüber Mitgefangenen weiterhin leugnen soll. Eine HNA-Anfrage bei Staatsanwaltschaft, Justizministerium und Anstaltsleitung wurde vom Ministerium allgemein beantwort. Darin heißt es, Ziel und Verpflichtung des Justizvollzugs sei die Resozialisierung des Straftäters. Vollzugsöffnende Maßnahmen wie Freigänge und Ausgänge seien möglich. Damit solle erreicht werden, dass der Inhaftierte langsam wieder an das Leben in Freiheit gewöhnt werde.
Zu dem Einzelfall will sich der Weiße Ring Kassel, eine Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, nicht äußern. Leiter Jörg Stein sagt aber: Bei Lockerungen für Straftäter werde nicht daran gedacht, was die Opfer empfinden.
Fragen und Antworten
Worum ging es in dem ursprünglichen Fall?
Im Oktober 2015 wurde der damals 49-jährige Mann aus Kassel zu sechs Jahren Haft wegen schweren sexuellen Missbrauchs in einem Fall und sexuellen Missbrauchs in 383 Fällen vor der Jugendschutzkammer des Landgerichts Kassel verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sich der Mann zwischen 2007 bis 2011 regelmäßig an seiner adoptierten Stieftochter vergangen hat. Das Mädchen hatte sich erst im Jahr 2013 ihrer Mutter, die noch zwei gemeinsame jüngere Kinder mit dem Mann hat, anvertraut. Dieser Zeitpunkt war für das Gericht schlüssig, da das Opfer seine jüngere Schwester schützen wollte. Die hatte nämlich 2013 das Alter erreicht, bei dem der Missbrauch bei der älteren Schwester begonnen hatte. Das Opfer war laut Gerichtsverhandlung erstmals im Alter von acht Jahren vom Stiefvater missbraucht worden.
Dieser hatte die Vorwürfe vor Gericht bis zum Schluss bestritten. Er sprach von einer „Verschwörung“.
Das Justizministerium verweist auf die Resozialisierung als Ziel des Justizvollzugs. Wie soll diese generell erreicht werden?
Da gäbe es verschiedene Instrumente, die individuell auf die Gefangenen abgestimmt würden. Förderlich könne etwa eine Berufsausbildung, eine Umschulung oder Arbeit innerhalb der Haftanstalt sein. Genauso gehörten auch die Möglichkeiten dazu, Besuch zu empfangen oder Telefonate zu führen. Darüber hinaus gäbe es vollzugsöffnende Maßnahmen. Die Gefangenen sollen so auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden.
Was ist unter vollzugsöffnenden Maßnahmen zu verstehen?
Dazu zählt eine regelmäßige Beschäftigung außerhalb der Justizvollzugsanstalt unter Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht (Freigang). Auch Ausführung und Ausgang gehören zu diesen Maßnahmen. Dabei verlässt der Gefangene die Justizvollzugsanstalt für eine bestimmte Tageszeit unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht (Ausgang).
Unter welchen Voraussetzungen werden vollzugsöffnende Maßnahmen gewährt?
Das Ganze unterliegt strengen gesetzlichen Regeln. Eine der Voraussetzungen hebt das Ministerium hervor: Es soll nicht zu befürchten sein, „dass die hierfür in Frage kommenden Gefangenen sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Maßnahmen zur Begehung von Straftaten oder auf andere Weise missbrauchen“. Heißt: Wenn die Gefahr besteht, dass der Gefangene während des Freigangs rückfällig wird, darf er das Gefängnis nicht verlassen. Bei der Prüfung vollzugsöffnender Maßnahmen seien der Schutz der Allgemeinheit und die Belange des Opferschutzes in angemessener Weise zu berücksichtigen.
Gelten für Sexualstraftäter gesonderte Regeln?
In einem Schreiben des Ministeriums heißt es, dass insbesondere bei Sexualstraftätern nach dem Gesetz vollzugsöffnende Maßnahmen nur gewährt werden könnten, „wenn besondere Umstände die Annahme begründen, dass eine Flucht- und Missbrauchsgefahr nicht gegeben ist“. Es müsse in der Regel ein Sachverständigengutachten vorliegen, bevor vollzugsöffnende Maßnahmen gewährleistet werden können. Bei schwerwiegenden Fällen – insbesondere bei Freiheitsstrafen von mehr als vier Jahren – müssten sogar zwei Gutachten eingeholt werden. Bei Sexualstraftätern sei auch die Vollstreckungsbehörde und gegebenenfalls das Landeskriminalamt zu beteiligen. Vollzugsöffnende Maßnahmen können schließlich auch widerrufen werden.
Ist es für die vollzugsöffnenden Maßnahmen erforderlich, dass der Täter die Tat gestanden hat?
Der Justizvollzug vollziehe Haft, habe aber nicht die Aufgabe, Geständnisse herbeizuführen, heißt es vom Ministerium. Das Gesetz sähe ein Geständnis als ausdrückliche Voraussetzung für die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen nicht vor. Wichtigste Voraussetzung für vollzugsöffnende Maßnahmen sei jedoch, dass die Gefangenen für die jeweilige Maßnahme geeignet sind. Andernfalls seien vollzugsöffnende Maßnahmen zu versagen. Bei der Eignung handele es sich um die Bereitschaft und Fähigkeit zur Mitarbeit, zur Einordnung in die Gemeinschaft und zu korrekter Führung unter gegebenenfalls geringerer Aufsicht.
Für welche Tätergruppen ist die Sozialtherapie gedacht?
Das hessische Strafvollzugsgesetz sieht vor, dass Gefangene in die Sotha verlegt werden, wenn sie wegen einer Sexualstraftat verurteilt worden sind. Andere Gefangene sollen dorthin verlegt werden, wenn besondere therapeutische Mittel notwendig erscheinen, um eine Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Dementsprechend haben etwa 85 Prozent der Insassen schwere Gewaltdelikte begangen. Die Sotha hat 139 Haftplätze.
Wurde im vorliegenden Fall eigentlich das Opfer über die Lockerungen informiert?
Ein Opfer kann beantragen, dass es über die erstmalige Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen für den Täter im Erwachsenstrafvollzug informiert wird. Solch ein Antrag hat das Opfer in diesem Fall wohl nicht gestellt.
Welche Reaktionen gab es auf die Presseanfrage der HNA?
Am Montag dieser Woche formulierte die HNA konkrete Fragen zu dem Fall an das Justizministerium, die Sotha und die Staatsanwaltschaft Kassel. Diese wurden nicht konkret beantwortet. Es gab am Donnerstag nur eine allgemeine Stellungnahme vom Justizministerium zur Resozialisierung von Straftätern. Allerdings erhielt die Redaktion bereits am Dienstag einen Anruf. Ein Mann, der erklärte, ein Bekannter des verurteilten Sexualstraftäters zu sein, wollte wissen, ob es richtig sei, dass die HNA in der Sache recherchiere.
Das ist die Sotha in Wehlheiden
In der Sozialtherapeutischen Anstalt (Sotha) in Wehlheiden werden nach Angaben des hessischen Justizministeriums erwachsene männliche Straftäter aus den Regelvollzugsanstalten verlegt, bei denen eine erhebliche Störung der sozialen und persönlichen Entwicklung vorliegt. Bei diesen Insassen ist zu befürchten, dass sie wieder rückfällig werden, wenn nicht besondere therapeutische Mittel und soziale Hilfen eingesetzt werden. Die Sotha hat derzeit 139 Haftplätze.
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