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So denken Kasseler Gefangene über die Oberbürgermeisterwahl

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Von: Bastian Ludwig

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Gefangene diskutieren immer dienstags über Politik und auch die Kasseler OB-Wahl: Geleitet wird die Gruppe seit zwölf Jahren vom ehrenamtlichen Betreuer Martin Heck.
Gefangene diskutieren immer dienstags über Politik und auch die Kasseler OB-Wahl: Geleitet wird die Gruppe seit zwölf Jahren vom ehrenamtlichen Betreuer Martin Heck. © Dieter Schachtschneider

Auch hinter Gittern wird über die Kasseler Oberbürgermeisterwahl gesprochen. Denn viele der Gefangenen sind wahlberechtigt. Wir haben eine Gruppe in der JVA Kassel I besucht, die regelmäßig über Politik spricht.

Kassel - Die Oberbürgermeisterwahl ist das Gesprächsthema in Kassel: Auf Plätzen, in Kneipen und in Wohnzimmern wird diskutiert. Doch es gibt einen Ort, wo der Kampf um die Macht im Rathaus hinter anderen Sorgen stark zurücktritt: die Justizvollzugsanstalt Kassel I in Wehlheiden. Doch eine kleine Gruppe debattiert auch hinter Mauern und Gittern über die Stadtpolitik und die Kandidaten.

Von den aktuell 339 Gefangenen sind immerhin 241 bei der OB-Wahl wahlberechtigt. „Erlaubt ist natürlich nur die Briefwahl“, sagt JVA-Leiter Jörg-Uwe Meister und schmunzelt. Wir besuchten den politischen Gesprächskreis der Gefangenen, der vor 35 Jahren gegründet wurde.

Es ist Dienstagabend. Martin Heck wartet in der JVA auf die Gefangenen, die wie jede Woche gegen 17.30 Uhr aus ihren Zellen ausgeschlossen werden. Er steht in einem Raum, der sich auch in einer Volkshochschule befinden könnte. Beim Blick aus dem Fenster fallen aber die Gitter ins Auge.

Heck ist seit zwölf Jahren ehrenamtlicher Betreuer der Gruppe, die sich wöchentlich trifft. Ende der 80er-Jahre sei diese als „Freizeitgruppe Bündnis 90/Die Grünen“ gegründet worden. „Es treffen sich dort aber Menschen mit ganz unterschiedlichen Parteipräferenzen“, sagt Heck. Es ist eine Art politischer Stammtisch, nur dass eben kein Bier auf den Tischen steht, sondern in der Ecke die Kaffeemaschine röchelt.

Normalerweise sind es neun Insassen, die mit Heck über Politik – vom Ukraine-Krieg bis zur kommunalen Drogenpolitik – diskutieren. Als die HNA zu Besuch ist, kommen nur sechs. Namen und Gesichter sollen anonym bleiben. Entsprechend haben wir die Vornamen geändert. Fast alle im Raum haben ihre Stimme zur OB-Wahl abgegeben. Denn wer länger als sechs Wochen in Kassel lebt und Deutscher oder EU-Bürger ist, darf wählen. Einige in der Runde geben ihre Sympathien für Sven Schoeller (Grüne) und Violetta Bock (Linke) zu. Andere schweigen.

Aber welches Interesse haben langjährig Gefangene an der Entwicklung einer Stadt, die sie bis auf Weiteres nicht besuchen können? „Es sollte niemandem egal sein, was in seiner Stadt passiert. Es gibt so viele Baustellen, die angegangen werden müssen“, findet Harald. Dazu zähle etwa die Verkehrswende.

Blick in einen der Zellentrakte: Die JVA Kassel I ist ein Gefängnis mit höchster Sicherheitsstufe.
Blick in einen der Zellentrakte: Die JVA Kassel I ist ein Gefängnis mit höchster Sicherheitsstufe. © Dieter Schachtschneider

Wolfgang hat andere Prioritäten: „Weltoffenheit, documenta und Verkehrsthemen sind für mich Nebensächlichkeiten.“ Auch über die Genderdebatte könne er nur schmunzeln. Es folgen ein paar Genderwitze. Ein wichtiges Thema sei hingegen der soziale Wohnungsbau. Gerade für die Zeit nach der Gefangenschaft sei es für die Betroffenen wichtig, eine Wohnung zu finden. Wer ohne festen Wohnsitz bleibe, gerade schnell in eine Abwärtsspirale. Die anderen in der Gruppe pflichten ihm bei. JVA-Leiter Meister kennt die Nöte: „Auch nach verbüßter Strafe spüren die Menschen die Folgen. Das fängt mit Schufa-Auskünften und Einkommensnachweisen an.“

Harald, Wolfgang und die anderen aus der Gruppe räumen ein, dass sie mit den allermeisten Mitgefangenen über derartige Fragen nicht sprechen könnten. „Fast alle gehen lieber in die Muckibude, statt zu diskutieren“, sagt Michael. Helmut ergänzt: „Wenn du ein gescheites Gespräch führen willst, ist es hier ansonsten schwierig. Vielen fehlt es an Interesse und Reflexionsvermögen. Oft geht es bei Gesprächen nur ums Essen.“ Lediglich der Ukraine-Krieg sei ein heftig umstrittenes Thema, was auch an den russischstämmigen Gefangenen liege.

Für alle im Raum ist das Treffen am Dienstagabend der intellektuelle Höhepunkt der Woche, bei dem es zuletzt immer wieder um den Kampf ums Rathaus ging. Von den sechs Kandidatinnen und Kandidaten zur OB-Wahl ist vor allem Schoeller im Gefängnis ein regelmäßiger Gast. Als Strafverteidiger hat er mehrere Insassen vor Gericht vertreten – auch Michael aus der Gruppe. Als ehemalige Justizministerin ist zudem Eva Kühne-Hörmann (CDU) keine Unbekannte bei den Menschen hinter Gittern.

Informationen zu den Kandidaten und ihren Programmen bekommen die Gefangenen fast ausschließlich über die HNA. „Wir haben kein Twitter und Google“, sagt Harald. Zwar sei es rechtlich möglich, dass sich die Kandidaten auch im Gefängnis – etwa mittels Flyern – bis sechs Wochen vor dem Wahltermin präsentierten, so JVA-Leiter Meister. Davon habe aber bislang niemand Gebrauch gemacht.

Seit seinem Amtsantritt vor mehr als 20 Jahren habe kein Oberbürgermeister den Austausch mit den Insassen gesucht. Bürgermeisterin Ilona Friedrich (SPD) sei aber zuletzt vor Ort gewesen.

Die Gefangenen in der Dienstagsrunde machen sich wenig Illusionen: „Im Großen und Ganzen interessiert es keinen, wie wir leben“, sagt Harald. Im Gegenteil: Die meisten Wählerstimmen würden Politiker einfangen, wenn sie für schärfere Haftbedingungen plädierten. Deshalb gebe es auch kaum noch offenen Vollzug – obwohl dieser für den Steuerzahler viel günstiger sei. Dies liege aber nicht an der Schlechtigkeit der Menschen, sondern daran, dass sie sich kein Bild davon machen könnten, welches Leid es über Menschen bringe, wenn ihnen ihre Freiheit genommen werde.

Um 19.30 Uhr ist Schluss. Nächste Woche wird weiter diskutiert. „Darauf freut sich mein Gehirn“, sagt Helmut.

Von Bastian Ludwig

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