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Kasseler Caricatura-Geschäftsführer: „Wir leben in einer Erregungsgesellschaft“

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Von: Ulrike Pflüger-Scherb

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Bau für eine andere Ausstellung: Die Gerüst-Halle soll nicht der documenta, sondern der Caricatura dienen. Im Bild deren Geschäftsführer Martin Sonntag.
Martin Sonntag, Geschäftsführer der Caricatura in Kassel. © Axel Schwarz

Die documenta fifteen bleibt in den Schlagzeilen. Was darf Kunst? Was darf Satire? Darüber sprachen wir mit Martin Sonntag, Geschäftsführer der Caricatura in Kassel.

Wie haben Sie die ganze Debatte in den letzten Wochen erlebt?

Diese Debatte ist sehr unglücklich gelaufen. Wir sind uns einig, dass Antisemitismus auf der documenta nichts zu suchen hat. Es ist auch richtig reagiert worden, indem das Banner von Taring Padi entfernt wurde. Bei der Debatte, die dann geführt wurde, hatte man manchmal aber das Gefühl, dass sie erst endet, wenn alle alles gesagt haben. Im Verlauf ging es auch immer mehr um Parteipolitik als um Inhalte. Das wird dann müßig. Wir kennen das ja in Kassel: Die documenta wird alle fünf Jahre tot geschrieben. Für manche dieser Kritiker ist das aktuell ein Fest.

Können Sie sich vorstellen, dass die documenta aus dieser Antisemitismus-Spirale überhaupt noch herauskommt?

Ich glaube, die documenta als Institution ist stark genug, das zu schaffen. Ich hoffe, dass alle am Ende mit neuen Erkenntnissen da rausgehen. Die mediale Begleitung spielt dabei eine wichtige Rolle. Wir leben mittlerweile in einer Erregungsgesellschaft, in der nur noch die laute Schlagzeile und Klickzahlen zählen. Dabei ist gerade jetzt der sachliche Diskurs wichtig.

Hätten Sie das Banner „People’s Justice“ in der Caricatura ausgestellt?

Nein, das ist nicht unsere Richtung. Bei unseren Cartoons stellen wir uns den Fragen der Gegenwart. In der aktuellen Ausstellung „Systemfehler²“ wird der Irrsinn der Welt in seinen unterschiedlichen Facetten dargestellt. Da geht es zum Beispiel um den Klimawandel oder den Krieg in der Ukraine. Ruangrupa hat da andere Themen.

Noch bis zum 25. September: Die Ausstellung „Systemfehler² – Cartoons zum Irrsinn der Welt“, aus der auch der Cartoon von André Sedlaczek stammt. Zeichnung: André Sedlaczek
Noch bis zum 25. September: Die Ausstellung „Systemfehler² – Cartoons zum Irrsinn der Welt“, aus der auch der Cartoon von André Sedlaczek stammt. Zeichnung: André Sedlaczek © Caricatura Kassel

Wie wichtig ist es, zu erklären, woher ein Kunstwerk stammt und in welchem Kontext es entstanden ist?

Gerade wenn es sich um dokumentarische Präsentationen wie bei dem Banner oder der Broschüre handelt, sollte kontextualisiert werden. Wenn das ausbleibt, sind Interpretationen in alle Richtungen möglich. Es ist sinnvoll, wenn eine Haltung sichtbar wird: Warum stelle ich etwas aus und wie – und wie stehe ich zu den Inhalten.

Werden in der Caricatura Cartoons mit einem Erklärtext versehen?

In der Regel nicht. Die meisten Cartoons erklären sich von selbst, da sie durch ihre Aktualität verstanden werden. Wir hatten aber auch schon Ausstellungen mit historischen Bezügen oder im großen Komplex des Streits um die Mohammed-Karikaturen. Bei denen haben wir entsprechende Einordnungen mitgeliefert. Die Besucher und Besucherinnen sollen ja verstehen und nicht rätseln.

Nach dem islamistischen Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris sagten Sie im Jahr 2015, dass Satire keine Rücksicht nehmen darf. Darf Satire alles?

Satire darf nicht alles, Satire darf nicht gegen Gesetze verstoßen. Darüber entscheiden aber Richter und nicht irgendwelche Attentäter. Satire kann ihre Grenzen aber auch in den Tabus einer Gesellschaft finden. Gesellschaften verändern sich permanent, und mit ihnen verändern sich auch ihre Tabus. Es ist eine Aufgabe von Satire zu schauen, wo Gesellschaft gerade steht, das zu reflektieren und wenn nötig zu kritisieren. Dabei kann es vorkommen, dass Grenzen überschritten und Tabus gebrochen werden. Das muss man dann mit einer klaren Haltung zum Thema erklären können – oder gegebenenfalls eingestehen, dass man zu weit gegangen ist.

Die Mohammed-Karikaturen des Magazins waren wohl der Auslöser für den Anschlag auf Charlie Hebdo. Müssen nur Moslems Satire aushalten oder auch andere Religionen?

Im Prinzip müssen alle Religionen Satire aushalten. Bei Religion-Cartoons werden Witze über Elemente, Würdenträger oder Riten des Christentums, Islam, Buddhismus gemacht. Dadurch werden nicht per se alle Gläubigen dieser Religion diskreditiert. Anders ist das beim Thema Antisemitismus. Hier geht es nicht darum, Witze über Eigenarten des jüdischen Glaubens zu machen, sondern darum, eine Volksgruppe in Gänze zu diffamieren. Übrigens eine Volksgruppe, die seit vielen Jahrhunderten verfolgt und angegriffen wird. Die entsprechende Bildsprache wurde historisch gezielt eingesetzt, um diese Verfolgung zu unterstützen. In Deutschland endete das im Holocaust. Das ist also ein gravierender Unterschied.

Gab es in der Vergangenheit Kontroversen über Karikaturen, die in der Caricatura ausgestellt worden sind?

Immer mal wieder. Vor zehn Jahren hing ein Banner mit Jesus am Kreuz an der Außenfassade des Kulturbahnhofs. Das führte zu einer großen Kontroverse. In der aktuellen Ausstellung hat es auch Kritik an einem Cartoon gegeben, der angeblich antisemitisch sei. Dabei wird mit der Karikatur ein Witz auf Kosten von Nazis gemacht.

Können Sie das näher erläutern?

In der Zeichnung ist ein Nazi-Pärchen zu sehen, die Frau ist schwanger. Die beiden unterhalten sich darüber, wie das Kind heißen soll. Wenn es ein Junge wird, soll er Thor heißen, sagt der Mann. Und wenn es ein Mädchen wird? Dann halt Thora. Im Hintergrund ist ein offensichtlich jüdischer Mann zu sehen, der dieses Gespräch mit größter Verwunderung verfolgt.

Dann wurde der Cartoon offenbar nicht verstanden.

Offensichtlich nicht. Momentan gibt es so etwas Reflexhaftes in unserer Gesellschaft. Die Leute werden schnell laut, wollen aber nicht diskutieren. Sie wollen Recht haben. In diesem speziellen Fall kam es aber zum direkten Gespräch. Das Missverständnis konnte aufgeklärt werden. Reden hilft.

Kann man Karikaturen zum Thema Antisemitismus überhaupt zeigen?

Wir hatten schon vor langer Zeit zusammen mit dem Sara-Nussbaum-Zentrum geplant, eigentlich in diesem Sommer eine Cartoon-Ausstellung zum Thema Antisemitismus und den „jüdischen Witz“ zu machen. Das hat aus verschiedenen Gründen leider nicht geklappt. Wir haben aber verabredet, das nachzuholen. Das Sara-Nussbaum-Zentrum macht eine hervorragende Arbeit. Es gibt also Kompetenz vor Ort.

Manche Kritiker der documenta fifteen verlangen, dass jetzt alle Kunstwerke untersucht werden. Was halten Sie davon?

Das ist schwierig, da dadurch alle Künstler unter Generalverdacht gestellt würden. Allerdings ist auch Vertrauen verloren gegangen. In der aktuellen Situation denke ich deshalb, dass es für das gegenseitige Vertrauen wichtig und sinnvoll ist, mit einer wissenschaftlichen Begleitung das Thema Antisemitismus zu bearbeiten. (use)

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