Ukrainische Geflüchtete in Kassel: „Wir schätzen die Hilfe sehr“

Die rund 8000 ukrainischen Geflüchteten in Kassel und Umgebung sind gut vernetzt und organisiert.
Kassel – Oksana Fomenko ist in ihrem 36-jährigen Leben gleich zwei Mal vor tödlichen russischen Angriffen auf ihr Land, die Ukraine, geflohen. Zuletzt vor knapp einem Jahr, am 3. März 2022. Seitdem lebt sie wie mehr als 4000 ihrer geflüchteten Landsleute in Kassel.
Oksana, die Psychologie und Jura studiert hat, arbeitete zuletzt als Dozentin an der Polizeiakademie in Odessa. Nach dem Überfall Putins am 24. Februar – hat die junge Mutter nicht lange überlegt, sondern für sich entschieden: Ich nehme mein Baby – der kleine Sohn war drei Monate alt –, setze mich in mein Auto und fahre in Richtung Westen. Ihr Ziel war Deutschland.
Sechs Tage lang war Oksana auf gefahrenvollen Wegen über Moldau und Rumänien unterwegs, bis sie am 9. März in Nordhessen ankam.
Kassel, so erzählt sie zur Verblüffung ihres Gegenübers, hatte sie als junge Frau als Touristin kennengelernt und in guter Erinnerung behalten. Jetzt sollte es ihr Fluchtort werden. Und ja: Sie fühle sich hier wohl und gut aufgenommen.
Schon einmal, vor acht Jahren, 2014, war Oksana vor russischen Bomben und Granaten aus ihrer Heimatstadt Luhansk im Donbass, im äußersten Osten der Ukraine, geflohen. Mit Kollegen der dortigen Polizeiakademie wollte sie im Auto aus der Stadt, in der sie geboren war, schnell herauskommen. Der russische Terror hatte ein lebensbedrohliches Maß angenommen, erzählt sie: Sechs junge Polizeianwärter, die sie persönlich kannte, waren entführt und gefoltert worden. Das war für sie das Signal.
Doch im Wagen der Kollegen war für Oksana kein Platz mehr. Der Bahnhof der Stadt war gesprengt worden, und so machte sie sich per Anhalter auf den Weg raus aus der Stadt. Später erreichte sie die schreckliche Nachricht, dass ihre Kollegen, darunter eine im sechsten Monat schwangere Frau, noch im Donbass ums Leben gekommen waren: Ihr Fluchtauto war von einer russischen Rakete getroffen worden.
Als sie davon erzählt, ist die sonst gefasst wirkende Oksana, schneeweiß im Gesicht. Ihre Augen blicken ins Leere.
Acht Jahre lebte Oksana danach in der südukrainischen Hafenstadt Odessa, wo sie anfangs niemanden kannte, wo sie bei null anfing, sich ein neues Leben aufbaute, ihren Mann kennenlernte und ein Baby bekam. Bis sie vor einem Jahr zum zweiten Mal die Flucht antrat.
In Deutschland angekommen, buchte Oksana für sich und ihr Baby über eine Booking-App eine Airbnb-Unterkunft: in Niedenstein, vor den Toren der Stadt. Ein Glücksgriff, wie sich herausstellte: Die Vermieterin wollte von der geflüchteten Frau kein Geld nehmen. Mit der Hilfe einer Freundin brachte sie Oksana und ihr Baby die ersten Monate in Deutschland kostenlos unter. Und sie half ihr bei allen Behördengängen und Formalitäten. Bald hatte Oksana einen Aufenthaltsstatus und konnte eine Wohnung in der Kasseler Nordstadt beziehen. Inzwischen lebt auch Oksanas Mutter, die mit zwei Kindern einer Freundin aus der Ukraine geflohen war, ebenso wie ihr Mann, der sich bei Ausbruch des Kriegs beruflich in Polen aufhielt, in Kassel.
Vieles hat sich seitdem beruhigt und eingespielt: Oksana besucht einen Deutschkurs und lernt die neue Sprache. „Ich bin ein mathematischer Mensch, Sprachen fallen mir nicht so leicht“, räumt sie ein: „Ich versuche aber, alles zu tun, was in meiner Kraft steht.“
Vor allem engagiert sich Oksana in der ukrainischen Community, einer Gruppe, die sich „Ukrainer in Kassel und Umgebung“ nennt und der – entsprechend der Anzahl von Telegram-Accounts – 3500 Menschen angehören.
Zusammen mit ihren Landsleuten, allen voran Viktor Buryachok, einem Lehrer, der schon lange in Kassel lebt und inzwischen zum Sprecher der Gruppe geworden ist, organisiert sie Hilfen für die Ukraine. Ihr Engagement beginnt bei handfester Mitarbeit als eine von vielen Ehrenamtlichen bei der Zusammenstellung von Hilfsgütertransporten der Malteser. Der nächste Transport – inzwischen die Nummer 50 – macht sich am Samstag wieder von der Kirche St. Joseph in Rothenditmold aus auf den Weg.
Außerdem leistet Oksana IT-Support für Netzwerke und Kontakte zu Firmen und internationalen Projekten, wie sie sagt.
Von Anfang an organisiert die ukrainische Community, die dabei ist, sich als Verein zu formieren, regelmäßig Demonstrationen in der Stadt. „Da geht es zum einen darum, den Nordhessen immer wieder Danke für ihre Hilfsbereitschaft zu sagen und zum anderen, die Deutschen aufzufordern, die Ukraine mit Waffen und Kriegsmaterial zu unterstützen“, sagt Viktor Buryachok. „Wir wissen die Unterstützung, die wir hier erhalten, die Gewissheit, in Sicherheit zu sein, außerordentlich zu schätzen“, sagt Oksana Fomenko.
Trotzdem gehen ihre Gedanken täglich voller Sorgen in die Heimat. Etwa zu ihrem Bruder, einem Polizisten, zu dem sie nur dann Handykontakt hat, wenn nicht mal wieder Stromausfall ist und er sich nicht gerade im Kriegseinsatz befindet. Er werde bis zuletzt kämpfen, sagt er ihr immer wieder.
Über die politische Entwicklung in Deutschland, die Ukraine jetzt auch durch die Lieferung von Panzern und anderen Waffensystemen zu unterstützen, seien die Ukrainer hier und in der Heimat erleichtert und froh, sagt Buryachok: „Das ist ein enorm wichtiges Signal für uns.“
Oksana Fomenko sagt: „Wenn ich an mein Heimatland denke, ist alles, was ich empfinde, Trauer, Schmerz und der Wunsch nach dem Sieg.“ Dann fügt sie hinzu: „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine das schafft.“