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Jugend in Kassel: „Wir sind richtige Pfennigfuchser“

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Bewusst einkaufen – für Menschen, die jeden Cent drei Mal umdrehen müssen, bevor sie etwas kaufen, sind Sonderangebote eine willkommene Möglichkeit, um Geld zu sparen.
Bewusst einkaufen – für Menschen, die jeden Cent drei Mal umdrehen müssen, bevor sie etwas kaufen, sind Sonderangebote eine willkommene Möglichkeit, um Geld zu sparen. © Benjamin Nolte/dpa

Kassel – Bei der Bertelsmann-Studie zu Kinder- und Jugendarmut in Deutschland kam heraus, dass vor allem junge Menschen zwischen 20 und 25 Jahren stark von Armut betroffen sind. Unter Studierenden kann heute jeder Dritte als arm eingestuft werden. Wir unterhielten uns mit jungen Kasselern, einem Auszubildenden und einem Studenten, Leon Haug (21) und Julien Koch (20), über ihre prekären Lebenssituationen.

Spielt Geld in Euerem Leben eine Rolle?

Julien Koch: Oh ja. Es fehlt.

Leon Haug: Es spielt definitiv eine Rolle. Ich bin mit 18 von zuhause ausgezogen. Seitdem bin ich auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Inklusive Miete lebe ich von rund 800 Euro monatlich, zusammengesetzt aus Hartz IV, also jetzt Bürgergeld, Kindergeld und Bafög. Aus der Grenze komme ich nicht raus, weil alles, was ich dazu verdienen würde oder zusätzliche Zahlungen, die ich bekomme, wie etwa Energiegeld, davon abgezogen wird.

Mit dem Geld muss ich auskommen. Das bedeutet: Mein Konto ist eigentlich immer im Minus.

Macht ihr Euch Gedanken in Bezug auf Euere finanzielle Zukunft?

Julien: Ja, nicht auf moralischer Ebene. Aber ich frage mich schon: Wie werde ich es schaffen, mit Geld umzugehen?

Ich studiere und wohne mit meinen zwei jüngeren Geschwistern bei meinen Eltern, in einem schnuckeligen Sechs-Quadratmeter-Zimmer. Meine Eltern sind keine Großverdiener. Deshalb haben wir gemeinsam eine Finanzierung für mich ausgemacht: Ich bekomme meinen Bafög-Satz, 511 Euro. Davon gebe ich meinen Eltern 75 Euro ab. Sie bekommen auch das Kindergeld und finanzieren davon unter anderem meine Studiengebühren. Für Kosten für Handy und Klamotten muss ich selber aufkommen. Mein Bett habe ich mit meinem Dad selbst gebaut. Ich habe das Glück, dass mein Semesterticket für ganz Hessen gilt. Das macht mich mobil.

Für Extras – wenn ich mir ein neues Tattoo stechen lasse, das ist meine große Leidenschaft – spare ich das Geld, das ich für meine Ehrenämter bekomme.

Wie meisterst Du den Alltag, Leon?

Leon: Ich gehe ja noch zur Knipping-Schule, wo ich eine Ausbildung zum Maßschneider mache. Ich wohne in einer Dreier-WG in Bettenhausen. Mein Mietanteil wird von meiner Grundsicherung abgedeckt. Essen einkaufen gehen wir meistens zusammen, aber jeder kauft für seine Bedürfnisse ein. Das ist fairer.

Achtet Ihr auf Preise?

Leon: Mein Gott, ja. Wir gucken nach Sonderangeboten und sind richtige Pfennigfuchser, wir überlegen dreimal, ob wir bei Tegut oder Aldi einkaufen. Am Ende essen wir ganz viel Nudeln mit Pesto.

Wie sieht es mit Urlaubsreisen aus?

Leon (lacht): Die gibt es nicht. Wie Julien mache ich seit einigen Jahren ehrenamtlich Ferienbetreuung für Kinder: mit Zelten im Wald und Unternehmungen. Das ist für mich mein Urlaub, und ehrlich, gefällt mir das auch gut. Das ist eine schöne Auszeit, die ich genieße. Aber zum Thema Freizeit möchte ich noch sagen: Ich habe wahrscheinlich ADHS und sollte eigentlich regelmäßig Sport treiben. Aber viele Sportangebote sind einfach zu teuer. Bouldern zum Beispiel, was mir sehr gefallen würde. Auch eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio ist finanziell nicht drin.

Ihr seid jung und wollt Euch mit Gleichaltrigen treffen. Geht Ihr aus?

Julien (lacht): Wir haben für uns das Teetrinken entdeckt. Kein Scherz. Wir treffen uns privat, trinken Kräutertee, gucken Disney und skypen mit der besten Freundin. Alle zwei Monate gehen wir mal in den Irish Pub. Danach bin ich pleite. Ich habe aber auch Freunde, die Geld verdienen und mich einladen, etwa in der Lollibar ein Bier zu trinken. Darüber freue ich mich und nehme das auch an.

Leon: Man geht einfach nicht so viel aus, sondern kauft ne Flasche Wein und trinkt die mit Freunden zuhause. Ich gebe aber zu, dass ich eine Leidenschaft habe: Ich trinke unheimlich gerne in Cafés eine Tasse Kaffee. Das brauche ich für meinen Seelenausgleich und leiste es mir hin und wieder als Luxus, etwa im Stammcafé oder bei der Kaffeerösterin.

Ich wage gar nicht, danach zu fragen, ob Ihr zu Konzerten geht?

Leon: Vergangenes Jahr hat mir eine Freundin ihre Karte für das Open-Flair-Festival in Eschwege verkauft, weil sie nicht konnte. Ganz ehrlich: Das zahle ich immer noch in Raten ab. Das Geld für die Verpflegung hatte ich mir auch geliehen. Aber es war toll.

Sparen ist wahrscheinlich keine Option für Euch?

Julien (lacht): Ich habe tatsächlich ein Sparbuch. Da sind 260 Euro drauf. Dafür habe ich gerade 5 Cent Zinsen bekommen. Ich staune nur, wie das Geld verschwindet.

Leon: Mein Konto ist einfach nur im Minus, da kann ich nichts zurücklegen.

Julien: Ich muss mir von Freunden, Bekannten und Familie dauernd anhören: Warum suchst du dir keinen Job? Warum machst du keinen Führerschein? Geh doch zu VW und verdiene gutes Geld. Ja, könnte ich machen. Ich möchte aber lieber studieren und später etwas machen, was mir Spaß macht: Sozialarbeiter.

Leon: Einen Führerschein zu machen, kann ich mir nicht leisten. Meine Oma hatte Geld angespart und wollte mir 1000 Euro dafür geben, aber das reicht ja nicht. Man muss den Führerschein ja auch in einem Rutsch machen, sonst verfallen die bereits geleisteten theoretischen Stunden und man muss – auch finanziell – wieder von vorne anfangen.

Wie seht Ihr Euere Zukunft?

Leon: Ich würde mich als den geborenen Idealisten bezeichnen und möchte beruflich auf jeden Fall etwas machen, was mir Freude bereitet und mich zufrieden macht. Ich möchte in die Modebranche. Viel Geld zu verdienen, steht da nicht im Vordergrund. Natürlich würde ich gerne von meiner Arbeit leben.

Julien: So sehe ich das auch. Ich will beruflich meine Kreativität ausleben und nicht in einer Autofabrik arbeiten. Ich werde später als Sozialarbeiter bestimmt nicht massiv viel Geld verdienen, aber es ist mein Wunschberuf.

Was würdet Ihr Euch wünschen?

Leon: Ganz klar: Hilfe bei der Bürokratie. Diese ganzen Formalitäten und Schreiben von der Arbeitsagentur – manchmal bekomme ich mehrere an einem Tag – sind einfach so schwer zu verstehen. Und ich hatte Leistungskurs Deutsch und habe ein gutes Abi gemacht. Warum ist das alles so kompliziert und unlogisch? Warum muss man alles jedes Jahr neu beantragen, Familienkasse, Bafög-Amt, Arbeitsagentur. Dann muss die gesamte Familie einbezogen werden, was in manchen Familienkonstellationen äußerst schwierig bis unmöglich ist. Manchmal denke ich: Helft mir doch! Bekomme ich einen Bonus überwiesen, freue ich mich. Zwei Monate später wird er wieder abgezogen, ich habe ihn aber schon ausgegeben, und bin dann im Minus.

Warum kann das nicht von Anfang verrechnet werden? Auch die 75 Euro Energie-Bonus von der Stadt wurde bei mir – anders als angekündigt – mit der Grundsicherung verrechnet.

Julien: Du beantragst was, und es dauert sechs Monate. Das macht die Leute kaputt.

Leon: Warum gibt es für Zusatzzahlungen keinen Freibetrag? So was Unlogisches bereitet mir enormen Stress.

Julien: Und wo sind eigentlich die angekündigten 200 Euro Energiepauschale für Studenten und Fachschüler? Für uns ist das eine große Summe, die uns der Staat seit Herbst in Aussicht gestellt hat.

Leon: Ich könnte damit mein Minus ausgleichen.

Euer Fazit?

Julien: So schlecht geht es mir ja gar nicht.

Leon: Mir auch nicht.

Zu den Personen

Julien Koch (20) studiert im ersten Semester Diakonie-Gemeinde-Pädagogik und Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit Standort in Treysa. Er arbeitet als Praktikant im Jugendzentrum Wehlheiden und wohnt mit zwei jüngeren Geschwistern bei seinen Eltern in Kassel. Sein Fachabi hat er an der Knipping-Schule gemacht. Er engagiert sich bei der Evangelischen Jugend, beim Studio Lev und beim Kasseler Jugendring.

Leon Haug (21) lernt an der Knipping-Schule Maßschneider für Damenoberbekleidung. Dort hat er auch sein Abitur gemacht. Davor hat er die Gesamtschule Fuldatal besucht. Leon Haug wohnt in einer WG in Kassel-Bettenhausen.

Jeder vierte junge Erwachsene von Armut bedroht

Kassel – In Deutschland ist jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene von Armut bedroht. Das ist das Ergebnis der jüngsten Bertelsmann-Studie. Die Kinderarmutsquote bezeichnet den Anteil an Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die Leistungen nach dem SGB II – jetzt Bürgergeld – erhalten. Auffallend ist der hohe Anteil junger Erwachsener bis 25 Jahre. Laut Studie hat diese Altersgruppe in allen Bundesländern das höchste Armutsrisiko. In beiden Fällen ist die Kassel-Quote mit 28 Prozent bei Kindern und Jugendlichen beziehungsweise elf Prozent bei jungen Erwachsenen die höchste in Hessen.

„Diese Werte stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der landesweiten Verteilung von Schutzsuchenden“, heißt es dazu auf Anfrage aus dem Kasseler Rathaus. In Relation zur Einwohnerzahl habe Kassel erheblich, teilweise über dreimal, mehr Schutzsuchende aufgenommen, als alle anderen hessischen Großstädte.

Die Corona- und die Energiekrise hätten das Problem noch verschärft.

„Kinderarmut ist nicht hinnehmbar“, erklären dazu die Kinder- und Jugenddezernentin Nicole Maisch und Bürgermeisterin Ilona Friedrich, die außerdem Sozialdezernentin ist: „Die häufigste Ursache für Kinderarmut ist die Arbeitslosigkeit der Eltern.“ Auch Alleinerziehenden stehe oft nicht genug Geld zur Verfügung. Auch trete Kinderarmut gehäuft in Familien mit drei oder mehr Kindern auf, vor allem, wenn nur ein Elternteil erwerbstätig ist.

Zwar lasse sich die Höhe der Transferleistungen durch eine Kommune „zumindest kurz- und mittelfristig nicht beeinflussen“, so die Dezernentinnen, „aber die Stadt Kassel bekämpft die wachsende Kinderarmut in vielfältiger Weise.“

Viele innovative Projekte in den Bereichen Arbeit, Soziales, Bildung und Gesundheit seien und werden auf den Weg gebracht. Im Herbst wurde der Kasseler Pakt gegen Armut gegründet, der die lokalen Förderpotenziale der Armutsbekämpfung vernetzt und koordiniert, um sie zielgerichtet einsetzen zu können“, so Friedrich, die den Pakt initiiert hatte.

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