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Offen für Vielfalt: „Der Mord an Walter Lübcke hat unsere Initiative politisiert“

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Von: Matthias Lohr

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Sprecherin und Koordinatorin der Initiative „Offen für Vielfalt -  ​Geschlossen gegen Ausgrenzung“: Dagmar Krauße
Sprecherin und Koordinatorin der Initiative „Offen für Vielfalt - Geschlossen gegen Ausgrenzung“: Dagmar Krauße © Matthias Lohr

Vor drei Jahren wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen. Die Initiative „Offen für Vielfalt“ erinnert an ihn und mahnt demokratische Werte an.

Kassel – Am Donnerstag jährt sich der Todestag von Walter Lübcke zum dritten Mal. Auch die Demokratie-Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ erinnert regelmäßig an den ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten. Auch sonst ist das Bündnis sehr präsent. Wir haben mit Sprecherin und Koordinatorin Dagmar Krauße geredet.

Ihre Initiative gab es schon vor dem Mord an Walter Lübcke. Wie kam es zur Gründung?

Die Idee zur Gründung gab es bereits im Herbst 2018 nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz und vor der anstehenden Landtagswahl in Hessen. Auf dem Haydauer Forum, wo sich Wirtschaftslenker aus der Region treffen, äußerten fünf Unternehmen erstmals den Wunsch, ein gesellschaftspolitisches Zeichen zu setzen – neben Wintershall Dea waren das K + S, die Kasseler Sparkasse, Hübner und Schaltbau Bode. Gemeinsam haben wir die Türschild-Aktion entwickelt, an der sich die Zivilgesellschaft beteiligen sollte, und dazu Anzeigen geschaltet. Das alles bekam sofort eine unglaubliche Dynamik. Ganz ehrlich, von so einer großen Resonanz hatten wir nicht zu träumen gewagt.

An vielen Türen hingen bald die Schilder: „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“. Warum ist die Botschaft, die doch selbstverständlich sein sollte, so wichtig?

Weil sie zwar gesellschaftlicher Konsens ist, aber zunehmend angegriffen und infrage gestellt wird. Es zeigt sich doch jeden Tag, wie wichtig es ist, sich für demokratische Werte und eine offene Gesellschaft einzusetzen. Für Vielfalt, unsere Freiheit und Selbstbestimmung, für unsere Demokratie. Damit sprechen wir vielen aus dem Herzen. Mit unserem Wende-Türschild beziehen sie Position an der Haustür. Die Initiative spricht aber nicht nur über Vielfalt und Demokratie und ruft zum Wählen auf. Mit Wettbewerben stärken wir das Ehrenamt. Und wir setzen uns für eine diskriminierungsfreie Arbeitswelt ein – unabhängig von Herkunft, Sprache, Alter, Geschlecht und Sexualität. Das sind die drei Ebenen, auf denen wir aktiv sind.

Wie viele Schilder hängen in der Region?

Wir sind mittlerweile bei mehr als 25 000 in unserer Region. Das Herz unserer Initiative schlägt nach wie vor in Nordhessen, aber die Schilder setzen etwa auch in Frankfurt und Hanau Zeichen, wo wir Städtepartnerschaften haben. Wie Kassel ist Hanau durch einen rechtsextremistischen Anschlag erschüttert worden.

Inwiefern hat sich Ihre Arbeit durch den Mord an Walter Lübcke verändert?

Der Mord hat unsere Initiative ein Jahr nach ihrer Gründung schlagartig politisiert. Es war klar, dass es für uns um mehr gehen muss, als nur ein Zeichen für Vielfalt zu setzen. Walter Lübcke ist für demokratische Werte gestorben, für die er sich eingesetzt hat. Dieses Gedenken wollen wir aufrechterhalten und zugleich engagiert für unsere Demokratie streiten. Darum haben wir an seinem ersten Todestag ein riesiges Banner am Regierungspräsidium entrollt mit dem Satz: „Demokratische Werte sind unsterblich.“ Schon vor seiner Ermordung haben wir bei Kommunen und Unternehmen einen großen Bedarf gespürt, sich zu engagieren. Nach seinem Tod wurde der Zulauf noch größer. Wir müssen nicht anfragen, sondern die Partner kommen auf uns zu. Mittlerweile haben wir so viele, dass die Logos nur noch schwer auf Pressemitteilungen passen. Und in den nächsten Wochen freuen wir uns über weitere relevante Partner.

Wie genau ist „Offen für Vielfalt“ organisiert?

Wir haben mittlerweile 34 Partner. Es ist ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Unternehmen, kommunalen Gebietskörperschaften, Verbänden, Sportvereinen wie der MT Melsungen und dem KSV Hessen sowie der evangelischen Landeskirche. In dieser Vielfalt ist das meiner Ansicht nach einzigartig. Unsere Initiative ist ein lockerer Zusammenschluss. Basis ist der gemeinnützige Verein zur internationalen Verständigung. An den geben unsere Partner ihren Beitrag als Spende. So finanzieren wir beispielsweise unsere Aktivitäten wie den Wettbewerb „Vielfalt-Verstärker“, mit dem gemeinnützige Projekte in Kassel und der Region ausgezeichnet werden, die sich aktiv für Integration, Inklusion, Teilhabe und interkulturelle Verständigung einsetzen. Der Wettbewerb „Kommune der Vielfalt“ prämiert zudem Städte und Gemeinden aus Nord- und Osthessen für ihr Engagement für ein respektvolles Miteinander im ländlichen Raum. Gefördert werden wir übrigens auch von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Welchen Anteil hat Wintershall Dea an der Initiative?

Wie andere Partner auch ist Wintershall Dea ein Motor der Initiative. Wahrgenommen werden soll jedoch das Bündnis. Die Firmen und Organisationen stehen dahinter zurück.

Seit dem Ukraine-Krieg wird Wintershall Dea wegen seiner Geschäfte in Russland kritischer gesehen. Bisweilen hört man den Vorwurf, der Konzern wolle sich durch sein Engagement reinwaschen. Wie sehr trifft Sie das?

Wir sind eine unabhängige Initiative, die von vielen getragen wird. Was die Wintershall Dea als einen der Partner betrifft, so hat sich das Unternehmen öffentlich klar und deutlich gegen diesen Angriffskrieg positioniert. Das war für uns wichtig, auch für alle anderen Kooperationspartner. Wintershall Dea ist im Übrigen ja ein Gründungsmitglied von „Offen für Vielfalt“. Das Engagement des Unternehmens für die gemeinsame Initiative hat also bereits 2018, weit vor dem Ukraine-Krieg, begonnen.

Welche Aktion hat Sie in den fast vier Jahren ganz besonders bewegt?

Überwältigend war die große Demonstration gegen den Aufmarsch der Neonazi-Partei „Die Rechte“ im Juli 2019, die auch im Zeichen von „Offen für Vielfalt“ stand. Damals haben wir unheimlich viele Anfragen von Unternehmen bekommen, die etwa Banner von uns haben wollten. Es war ein wichtiges Zeichen, wie viele Menschen sich damals solidarisiert haben – ein Schulterschluss für die Zivilgesellschaft. Mit Schülern der Walter-Lübcke-Schule sind wir im Januar 2021 zur Urteilsverkündung im Lübcke-Prozess nach Frankfurt gefahren. Und wir waren bei der Umbenennung der Wolfhager Wilhelm-Filchner-Schule in Walter-Lübcke-Schule dabei. Es war beeindruckend, wie die Schüler das selbst angestoßen haben.

Wie wird es mit der Initiative weitergehen?

Wir haben einen sehr aktiven Sommer vor uns. Mit unserem Kooperationspartner Zeltkultur stehen wir auf der großen Bühne des Kasseler Kulturzelts, wo wir die Konzerte von Djazia Satour und Danger Dan präsentieren. Mit seinem Solo-Album hat der Rapper der Antilopen Gang deutlich gemacht, wie wichtig die Kunstfreiheit für unsere Demokratie ist. Dies wird eines unserer Schwerpunktthemen im documenta-Sommer. Außerdem wird es am Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August ein Benefizkonzert mit der Rapperin Alyona Alyona geben, einem der größten Pop-Stars des Landes. Wir werden ein Zeichen setzen, von Kassel nach Kiew. Und wir werden bei vielen weiteren Veranstaltungen vor Ort sein, etwa beim Kulturzelt in Wolfhagen.

In Nordhessen wurde nicht nur Walter Lübcke ermordet, sondern auch Halit Yozgat durch den NSU. Hat die Zivilgesellschaft angemessen auf die Taten reagiert?

Ich erlebe mittlerweile eine kritische und aktive Zivilgesellschaft in der Region. Viele Menschen sind aufgerüttelt und politisiert. Wir sind nicht die einzige Kraft in der Region. Es gibt viele, die sich engagieren. Ich freue mich aber, dass „Offen für Vielfalt“ einen Anteil an dieser Entwicklung hat. Wir erzeugen eine breite Aufmerksamkeit für das Thema. Nicht nur die „Querdenker“-Proteste während der Pandemie haben gezeigt: Es wird weiterhin wichtig sein, ein Zeichen für demokratische Werte und eine offene Gesellschaft zu setzen. (Matthias Lohr)

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