Wo sich beim Sturm alles ballt: Eine Reportage vom Bahnhof Wilhelmshöhe
Kassel. Sturmtief Friederike hat am Donnerstag den Bahnhof Wilhelmshöhe lahmgelegt. Eindrücke von gestrandeten Reisenden und vielen Helfern.
Wenn nichts mehr geht, genügt ein kurzer Aufenthalt am Bahnhof Wilhelmshöhe, um zu erahnen, welche Auswirkungen das Ganze hat. Gestern zum Beispiel. Sturmtief Friederike legt den Zugverkehr lahm. Mal wieder. Und der Bahnhof wird zum Ort, an dem sich alles ballt: Ärger, Ratlosigkeit, hektische Betriebsamkeit, Verwirrung, Resignation, Verzweiflung, Hilfsbereitschaft.
Um 13 Uhr wird die Schlange der gestrandeten Zugreisenden vor dem Infoschalter immer länger. Wo vor zwei Stunden noch gespenstische Ruhe herrschte und keine Verspätung auf der Anzeige stand, drängen sich nun die Reisenden im Bahnhofsgebäude. Die Reinigungskräfte der Bahn müssen sich mit ihren Caddies den Weg freihupen.
Fast alle Züge – egal ob in Richtung Süden oder Norden – haben Verspätung, teils massiv. Für den IC nach Leipzig steht bereits eine Verspätung von fünf Stunden auf der Anzeige. Ein paar Stunden später geht nichts mehr, der Zugverkehr ist komplett eingestellt. Und kaum einer weiß nun so recht, wie es weitergeht.

Da ist zum Beispiel Ines Poitz. Sie ist am Morgen von ihrem Wohnort auf der Insel Usedom losgefahren mit der Bahn – und nichts auf ihrer Fahrt mit Ziel Luzern lief so, wie es laufen sollte. In Berlin hatte ihr Zug einen Defekt, sie musste einen anderen nehmen. In Kassel dann war erst einmal Endstation.
Jetzt steht sie da auf dem Bahnsteig und raucht. Sie hat einen Platz im vollen Aufenthaltszug, der an Gleis drei für Gestrandete bereitsteht. Immerhin. Aber sonst? „Ist das doch eine Katastrophe.“ Sie schimpft auf die Bahn, weil keiner wisse, was nun sei. „Ich bin zum letzten Mal mit dem Zug unterwegs.“
Von oben kommt Wärme. Annette Blumöhr, die stellvertretende Leiterin der Bahnhofsmission, schiebt einen Wagen mit Kaffee und Tee die Rampe zum Bahnsteig hinunter. Wenn die Reisenden schon warten müssen, sollen sie wenigstens versorgt sein. Blumöhr ist aber mehr als eine Kaffeeverteilerin. Sie ist für die Menschen Ansprechpartnerin in der Not. Eine ältere Frau fragt sie fast verzweifelt und entkräftet: „Wo ist denn hier eine Toilette?“ Und ein jüngerer Mann will wissen: „Wo geht es denn hier zum Flixbus?“ Blumöhr hilft ihr und ihm.

Die Frau von der Bahnhofsmission hat Erfahrungen mit solchen Situationen und festgestellt, dass sie mittlerweile öfter vorkommen. Sie sagt: „Am Anfang sind die Leute noch gefasst. Aber mit zunehmender Dauer ändert sich das.“ Sie berichtet vom letzten Mal, als eine am Bahnhof gestrandete Familie mit Säugling der Verzweiflung nahe war und eine Mutter mit Kind fast einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Und jetzt? Die Szenen in der Bahnhofshalle: weiterhin die Menschenschlange hinter dem Info-Schalter, Mitarbeiter der Bahn, die ebenfalls Kaffee ausschenken, zahlreiche Menschen, die telefonieren, um irgendwie ihre Weiterfahrt zu organisieren. Auf dem Vorplatz sind Taxis heiß begehrt – und es gibt einen Markt für Mitfahrer. „Frankfurt“, ruft einer in die Menge, „Paderborn“ ein anderer. So bilden sich Fahrgemeinschaften. Eine Reisende aus New York schließt sich einer Familie auf deren Fahrt nach Paderborn an. Manchmal entstehen so ja Freundschaften fürs Leben. Noch ein letzter Blick nach drinnen. Am Rande beratschlagen sich ein paar Studenten, die nach Hause wollen. Einer von ihnen ist Alexander Schüler. Er will nach Gerstungen. Aber das wird wohl nichts mehr. Er nimmt es gelassen: „Zur Not schlafe ich bei einem Kommilitonen.“ Andere sind nicht so entspannt. Ein Kollege von ihm sagt: „Es gibt Tage, an denen du nicht weißt, warum du aufgestanden bist.“ Das fragen sich hier viele.
Als Tramperin nach Frankfurt
Sandra Trepte muss unbedingt nach Frankfurt. Egal wie. Die Studentin steht um 16.45 Uhr an der Bertha-von-Suttner-Straße hinter dem Bahnhof Wilhelmshöhe. In der Hand hält sie ein weißes DIN-A4-Papier. Darauf hat sie in großen Buchstaben den Namen ihres Zielortes geschrieben, eine Klarsichthülle schützt notdürftig vor Nieselregen. Treptes Freund Lorenzo fliegt am Freitag für mehrere Monate nach Südamerika. Gemeinsam studieren die beiden in Hamburg, er ist bereits am Wochenende zu seinen Eltern nach Frankfurt gefahren. Trepte hatte noch in Hamburg bleiben müssen. Heute Abend wollten sie sich noch mal sehen. Um 10 Uhr war die Studentin mit dem ICE in Hamburg gestartet. Bis Kassel habe alles gut geklappt, dann sei Schluss gewesen. Getrampt ist die Studentin bislang noch nie.

„Aber ich hab gedacht, vielleicht ist es meine einzige Chance, noch nach Frankfurt zu kommen“, sagt sie. Dass der Standort an der Bertha-von-Suttner-Straße für Mitfahrer nicht besonders günstig ist, habe man ihr am Bahnhof erzählt, aber zum Autohof am Lohfelder Rüssel zu kommen, sei bei diesem Wetter auch nicht einfach. „Hier kommen Autos mit Kennzeichen aus ganz Deutschland vorbei“, erzählt sie gerade, als ein Wagen mit Frankfurter Kennzeichen vorbeifährt – flehend hält Trepte ihr Schild hoch. Vergeblich, niemand hält an. Als Alternative hat sie einen Flixbus gebucht, aber auch der hat schon über zwei Stunden Verspätung, und die Autobahn zwischen Göttingen und Kassel ist ebenfalls wegen Sturmschäden gesperrt. Wir haben versucht, Sandra Trepte gestern noch zu erreichen – vergeblich. Hoffentlich hat sie ihr Ziel erreicht.
Informationen rund um das Sturmtief Friederike und seine Folgen finden Sie hier.