Immer mehr Senioren an der Uni: Kassel hat die meisten Gasthörer in Hessen

Immer mehr Senioren gehen im Ruhestand noch einmal an die Uni. Fast überall steigen die Gasthörerzahlen. Spitzenreiter ist Kassel. Welche Probleme bringt das mit sich?
Nicht nur die Studentenzahlen an der Uni Kassel sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Auch immer mehr Gasthörer strömen in die Hörsäle. Im laufenden Semester gibt es – neben den eingeschriebenen 25.350 Studierenden – 152 Gäste in den Lehrveranstaltungen. Hessenweit ist die Kasseler Hochschule damit Spitze. An der Uni Göttingen gibt es 122 reguläre Gasthörer (ohne Flüchtlingsprogramm). Insgesamt sind an den hessischen Hochschulen aktuell 881 Gasthörer gemeldet, wie das Statistische Landesamt mitteilt. Das ist ein Anstieg von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr.
In Kassel betrug der Zuwachs 13 Prozent. Gasthörer können auch ohne Abitur an ausgewählten Lehrveranstaltungen teilnehmen, legen aber keine Prüfungen ab. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um Senioren, die ihren Ruhestand nutzen wollen, um sich weiterzubilden. In Kassel sind drei Viertel der Gasthörer über 60 Jahre, der Altersschnitt liegt bei 61,5 Jahren. Tendenz steigend. 52 Prozent der Gasthörer sind weiblich. Das Angebot der sogenannten Bürgeruniversität wurde vor 13 Jahren aus der Taufe gehoben – und damit im Vergleich zu anderen Hochschulen relativ früh, sagt Nicole Carl, die das Gasthörerprogramm betreut.
Als Stärke des Kasseler Modells sieht sie das gemeinsame Lernen der Generationen. Denn die Gasthörer besuchen keine separierten Veranstaltungen, sie sitzen in regulären Vorlesungen zwischen den jungen Leuten. Auch die persönliche Beratung sei ein Erfolgsfaktor. Wer keinen akademischen Hintergrund hat, bekommt den Uni-Alltag erklärt. „Wir wollen keinen Elfenbeinturm“, sagt Carl. Inzwischen hat sich die Bürgeruni ein festes Stammpublikum erarbeitet. Mehr als die Hälfte der Gasthörer hat eine Jahreskarte. Dagegen hat die Uni insgesamt in diesem Wintersemester erstmals seit zehn Jahren weniger Studenten. Damit riss eine Rekordserie.
Pflichtfächer gibt es nicht
Claudia Eikelmann ist 56 Jahre alt und studiert im 5. Semester an der Universität in Kassel. Welches Fach? Jedes, das sie interessiert und das ihr Spaß macht, Pflichtfächer gibt es für sie nicht. Aus den bereitgestellten Kursen wählt sie ihre Favoriten und kann diese so oft und lange sie möchte besuchen, ohne eine einzige Prüfung abzulegen. Claudia Eikelmann lebt den Traum eines jeden gestressten Studenten – und zwar als Gasthörerin an der Universität Kassel.
Gasthörer, könnte man sagen, picken sich das Beste am Studieren heraus, “Luxuslernen” nennt Eikelmann das, deren Schwerpunkt auf Theologie und Philosophie liegt. Sie spricht begeistert von ihren Erfahrungen als „Seniorenstudentin“, die sie neben ihrem Halbtagsjob erlebt.
Claudia Eikelmann hat schon ein abgeschlossenes Studium in Innenarchitektur und arbeitet in einer Kasseler Firma für Messebau. In ihrer zweiten Uni-Ära hat sie sich absichtlich Fächer ausgesucht, die nichts mit ihrem Fachgebiet zu tun haben: „Ich will meine Wissenslücken füllen, meine Perspektiven erweitern und wegkommen von meinem technischen Hintergrund”, sagt die 56-Jährige.
Mit annähernd 150 weiteren Gasthörern lauscht die Baunatalerin den regulären Vorlesungen, besucht Seminare und ist dabei ein aktiver Part des Geschehens, beantwortet Fragen und macht sich Notizen. Nur auf Hausarbeiten und Referate verzichtet sie.
Viele Rentner verlegen ihr Leben auf den Campus
Im Uni-Alltag und zwischen den Vollzeitstudierenden fühlt sich Eikelmann gut integriert. Gasthörer seien hier nichts Ungewöhnliches, die älteren Kommilitonen tauschen sich aus und knüpfen Bekanntschaften.
Die Religionsgeschichte des Alten Testaments hat Eikelmann bisher besonders beeindruckt. Auch Politik- und Geschichstveranstaltungen möchte sie noch besuchen und plant bereits für ihre Zeit als Rentnerin: „Man kann sich hier viele, viele Jahre sehr gut beschäftigen”. Für die verheiratete Mutter von zwei Kindern, die selbst bereits studieren, ist das Lernen als Gasthörerin ein großes Vergnügen. Anders als beispielsweise beim Fernsehen, handele es sich um eine tiefgehende und rein sachliche Wissensweitergabe, ohne, dass um Aufmerksamkeit geheischt werde. „Und es macht so viel Spaß, ohne Leistungsdruck zu studieren“, sagt Eikelmann.
Die motivierte Freizeit-Studentin berichtet von einigen Gasthörern, die mit dem Eintritt der Rente quasi ihr ganzes Leben auf den Uni-Campus verlegt haben und hier sehr glücklich sind. Darin sieht sie eine Perspektive: „Es gibt immer mehr alte Menschen und die legen ihr Gehirn mit der Rente nicht ab. Hier haben sie eine tolle Möglichkeit, auch nach dem Beruf noch ihr Wissen zu erweitern. Das ist eine echte Bereicherung“.
Von Leonie Wessel