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Zweite Chance für Obdachlose in Kassel: Projekt „Housing First“ startet

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Von: Anna-Laura Weyh

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Trend zeigt sich auch in Kassel: Immer mehr Menschen sind von Obdachlosigkeit betroffen.
Trend zeigt sich auch in Kassel: Immer mehr Menschen sind von Obdachlosigkeit betroffen. © Daniel Bockwoldt/dpa

Die Obdachlosigkeit in Kassel nimmt zu. Das Projekt „Housing First“ soll nun gegensteuern und Mietverhältnisse vermitteln.

Kassel – Immer mehr Personen müssen von der Stadt Kassel in Wohnungen untergebracht werden, weil sie sonst von Obdachlosigkeit betroffen sind: Vor zehn Jahren waren es noch 332 Haushalte, aktuell sind es rund 700 Haushalte – darunter 150 Wohnungen von Ukrainerinnen und Ukrainern.

Die Gefahr der Obdachlosigkeit im Stadtgebiet nimmt somit zu. Das ist jedoch kein regionales, sondern ein bundesweites Problem. Dabei will die EU und damit auch ihre Mitgliedstaaten Obdachlosigkeit bis 2030 beenden. Um diesem Ziel einen Schritt näherzukommen, hat in Kassel nun das Projekt „Housing First“ gestartet.

„Besonders betroffen sind Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Situation, durch Verschuldung, Krankheit, Suchterkrankung, psychosoziale Problemlagen oder Haft einen erschwerten Zugang zum Wohnungsmarkt haben“, sagt Sozialdezernentin Ilona Friedrich (SPD). Der Ansatz von „Housing First“ biete einen neuen Weg für die Betroffenen, die schon lange ohne Unterkunft auf der Straße leben:

Projekt im Ausland schon erfolgreich

Das Konzept „Housing First“ wurde Anfang der 1990er-Jahre in den USA entwickelt. Dort wird es seither in einigen Städten praktiziert. Auch in Finnland ist es erfolgreich: Seit dem Beginn von „Housing First“ ist die Zahl der Obdachlosen dort deutlich zurückgegangen: Sie ist von 8260 im Jahr 2008 auf 3686 im Jahr 2022 gesunken. In Deutschland ist der Ansatz noch nicht weit verbreitet. Initiativen gibt es bereits unter anderem in Berlin, Bremen, Düsseldorf, Köln und Frankfurt. 

Die Vermittlung einer Wohnung mit eigenem Mietvertrag stehe dabei am Anfang der Unterstützung und sei nicht – wie bislang üblich – an Bedingungen geknüpft. Vielmehr werde ergänzende Hilfe auf freiwilliger Basis angeboten und soll so effizienter wirken. Das Projekt wird zu 90 Prozent von der EU gefördert. Fünf Prozent kommen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, fünf Prozent von den Trägern selbst.

„Unser Ziel ist es, diese Menschen in reguläre Mietverhältnisse zu vermitteln und durch begleitende Beratung zu stabilisieren“, so Sylvia Remmert vom Sozial-Center der Heilsarmee, das mit dem Verein Soziale Hilfe und dem Diakonischen Werk Region Kassel Träger des Projektes ist. „Wir orientieren uns nicht nur an der Bundesentwicklung. Wir schauen, was uns hier in Kassel weiterhilft“, sagt Michael Kurz vom Verein Soziale Hilfe.

Die Stadt Kassel agiert als Vermittlerin zwischen den Trägern und der Wohnungswirtschaft. „Wir sensibilisieren sie für die Thematik“, sagt Friedrich. Und die Bereitschaft der Wohnungsbaugesellschaften sei groß: Schon fünf Menschen konnten in Mietverhältnisse vermittelt werden. „Aber uns fehlen Wohnungen“, sagt Martin Schenker vom Diakonischen Werk. Deshalb suchen die Einrichtungen nun auch private Vermieterinnen und Vermieter, die Wohnungen für das Projekt zur Verfügung stellen.

„Der Start ist vielversprechend“

Die Zahl der Wohnungslosen nimmt zu. Das beobachten auch die Träger der Wohnungslosen-Hilfe in Kassel. „Obwohl wir hier wirklich ein gutes System haben, sind davon eher mehr Menschen betroffen“, sagt Martin Schenker vom Diakonischen Werk Region Kassel.

Aus diesem Grund hat sich seine Einrichtung nun gemeinsam mit dem Kasseler Verein Soziale Hilfe, dem Sozial-Center der Heilsarmee Kassel und dem Sozialamt der Stadt Kassel bei einer EU-Förderung beworben – und wurde angenommen. „Housing First“ heißt das Projekt, das schon im Oktober 2022 in Kassel angelaufen ist und Menschen, die schon lange obdachlos sind, bei der Rückkehr in ein geregeltes Leben hilft.

„Wir hatten nicht viel Zeit für die Bewerbung. Aber wir mussten es einfach versuchen. Das Projekt passt genau in die Zielrichtung unserer Zeit“, sagt Schenker. Für das Projekt wurde je Träger eine Mitarbeiterin eingestellt, die 30 Stunden pro Woche an „Housing First“ arbeitet.

Das bedeutet: Kontakt zu den Betroffenen aufnehmen, sie beraten, passende Wohnungen für sie finden und sie vermitteln sowie nach dem Einzug weiterhin betreuen. „Das ist ein breites Aufgabenspektrum“, sagt Sylvia Remmert vom Sozial-Center der Heilsarmee in Kassel. „Unser Ziel ist der diskriminierungsfreie Zugang zum Wohnungsmarkt für die, die langfristig obdachlos oder in Notunterkünften untergebracht sind“, sagt sie.

Zur Zielgruppe des Projektes gehören auch Personen, die gerade aus der Haft entlassen wurden oder an Suchterkrankungen leiden. Zu den Voraussetzungen, um bei „Housing First“ eine Wohnung vermittelt zu bekommen, gehören ein Aufenthalt von mehr als zwei Jahren in Kassel, eine längere Wohnungslosigkeit sowie keine Fremd- oder Selbstgefährdung. Auch der Wille zur Selbsthilfe und die Annahme von Unterstützung gehören dazu, so die Träger.

Uni Kassel begleitet Projekt

Auch die Uni Kassel begleitet das Projekt „Housing First“. Über vier Jahre werden Erfahrungen notiert und das Hilfesystem in Kassel zu Beginn des Projektes mit dem System unter dem Einfluss von „Housing First“ verglichen. „Darüber freuen wir uns sehr“, sagt Martin Schenker vom Diakonischen Werk Region Kassel. „Wir sind gespannt auf den Prozessverlauf“, sagt er.

Eine Vorgabe der EU, die das Projekt fördert: Im Jahr sollen 180 Menschen durch die Träger beraten werden. Mindestens 75 Prozent davon sollen in einer Form ins Hilfesystem eingebunden werden. „Das muss nicht unbedingt eine eigene Wohnung durch „Housing First“ sein, wir arbeiten auch mit der Drogenhilfe, mit Kliniken oder der Bahnhofsmission zusammen“, nennt Remmert einige Beispiele.

Vor allem zu Beginn des Projektes habe der Aufbau dieses Netzwerks im Kasseler Raum viel Zeit in Anspruch genommen. Dennoch konnten schon fünf Menschen in feste Mietverhältnisse vermittelt werden. „Das ist ein vielversprechender Start. Damit habe ich so schnell nicht gerechnet“, sagt Martin Schenker vom Diakonischen Werk Region Kassel.

Eine Kooperation der drei Träger, noch dazu mit dem Sozialamt der Stadt Kassel, habe es so noch nicht gegeben. „Das ist eine Chance für uns. Unsere Hilfesysteme sind gut. Allein sind wir dennoch nicht weitergekommen. Jetzt wollen wir es gemeinsam versuchen“, sagt Schenker. Auch über das Projekt hinaus werde sich vieles ändern, sind sich die Träger sicher.

„Wir sitzen zusammen und sehen, was wir da erreichen können. Das ist eine ganz andere Qualität“, sagt Michael Kurz vom Kasseler Verein Soziale Hilfe. Auch im Kontakt mit den Betroffenen sei die Kooperation der drei Träger von Vorteil: „Jeder von uns hat eigene Zugänge zu den Menschen. Wir erreichen durch die Zusammenarbeit mehr Menschen“, so Kurz.

Etwa 60 Menschen haben die drei Mitarbeiterinnen bereits seit Oktober beraten. Ein Problem, was sich bei ihrer Arbeit aber zeigt: Es fehlen Wohnungen. „Die Wohnungsbaugesellschaften kooperieren gut mit uns. Aber wir hoffen, dass sich auch private Vermieterinnen und Vermieter bei uns melden“, sagt Schenker.

Um Vorurteile abzubauen, betont Sylvia Remmert vom Sozial-Center der Heilsarmee: „Unsere Mitarbeiterinnen bleiben auch nach der Wohnungsvermittlung Ansprechpartnerinnen, wenn es vor Ort Probleme gibt. Sie stellen außerdem die Zahlungsfähigkeit sicher.“ Schenker ergänzt: „Auch unser Hausmeister kommt ab und zu vorbei.“

Kontakt und weitere Infos unter Tel.: 01 78/1 33 96 00

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