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Seine Madeleine ist Leberwurst

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Die ungewöhnliche Autobiografie von Friedrich Christian Delius benennt auch seine Wurzeln in Hessen. Der 2022 gestorbene Schriftsteller ist in Wehrda (damals Kreis Hünfeld) und Korbach aufgewachsen.

Berliner Akademie der Künste Friedrich Christian Delius
Wurzeln in Hessen: Friedrich Christian Delius bei einer Buchpräsentation in der Akadmeie der Künste in Berlin © Imago

Friedrich Christian Delius hat seiner ungewöhnlichen Autobiografie – sofern man davon sprechen kann, weil er sich der Wucht eines solchen Vorhabens spielerisch widersetzt hat – ein Wort von Montaigne vorangestellt: „Wir bestehen alle aus Stücken; und diese sind so uneinheitlich zusammengefügt, dass jeder einzelne Bestandteil, zu jeder Zeit wieder anders, seine Rolle für sich spielt.“

Das Zitat trifft Auffassung und Verfahren des im vorigen Jahr gestorbenen Schriftstellers genau. Delius hat in dem kurz vor seinem Tod beendeten Manuskript Erinnerungsbruchstücke, Fragmente, zusammengestellt: „ein Selbstporträt aus Collagen“ nennt er seine Variante einer Autobiografie, die den in Memoiren üblichen „Begradigungen, Vereinfachungen, Beschönigungen, Selbstüberschätzungen“ misstraut.

Erschienen ist Delius’ Buch aus Anlass seines 80. Geburtstags. Seine Witwe Ursula Bongaerts stellt es am Sonntag, 2. April, beim Literarischen Frühling in Waldeck vor. „In memoriam F. C. Delius“ dürfte eine wunderbare, auch tief bewegende Veranstaltung werden, schon weil Delius dem Festival als Schirmherr eng verbunden war.

Das Besondere an „Darling, it’s Dilius!“ – der Titel stammt aus einem Telefonat, der Komponist und Wiener Emigrant Walter Abish wurde so vor Jahren von seiner Frau in New York an den Apparat gerufen – ist nicht nur, dass Delius Anekdoten, Gedanken, Gedichte und Porträtsplitter scheinbar zusammenhanglos aneinanderreiht, sondern dass er sie alle unter Begriffe mit dem Anfangsbuchstaben A fasst: A4-Papier, Abitur, Abschlussball, Adenauer, Adorno, Arminia, Aracoeli, Arschlöcher, Amerikahaus, Amen, Auschwitz – und und und. Man wird das anregende „It’s Dilius, Darling!“ auch abschnitts- und etappenweise lesen wollen, nicht wie einen Krimi atemlos verschlingen.

Aber die Teile, die zufällig gesetzt wirken, ergeben wie bei einem Mosaik in Gänze ein Bild. In Skizzen, die manche Fäden immer wieder aufnehmen, berichtet Delius über wichtige Stationen, Themen und Menschen seines Lebens: der Weg zur Dichtung, ein Auslandsjahr in London, die Tagung der Gruppe 47 in Princeton, die 68er-Bewegung (wenn schon, sei er „Altsechsundsechziger“, so Delius), Prozesse gegen Siemens und Horten, das Zerwürfnis mit Verleger Klaus Wagenbach, Neubeginn bei Rotbuch, die Geburt zweier Töchter in einer ersten Ehe, Jahre in den Niederlanden, in Bielefeld, Rom, Stipendien wie die Kasseler Grimm-Professur, wichtige Lektüren und Freundschaften.

Ein zentrales Thema ist, dass sich Delius erst zu Beginn der 90er-Jahre literarisch mit seiner Kindheit im evangelischen Pfarrhaus – zuerst in Wehrda (heute Haunetal) und später in Korbach – auseinandersetzte. Im brillanten „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ ging er dem nach, was er im Buch so formuliert: „der Einfluss der Bibelsätze, Gebete, Choräle auf die Seele eines Elfjährigen und die subtile Herrschaft des wortmächtigen und gotteswortmächtigen Vaters über seinen stotternden und schweigenden ältesten Sohn, der vorübergehend in der Fußballanbetung sein Glück fand.“ Ein geradezu befreiendes Jahr absolvierte er 1957/58 im Internat der Melanchthon-Schule Steinatal (heute Schwalm-Eder-Kreis).

Unter vielen Stichworten – darunter Alte Klosterschule (Bad Hersfeld) und Alte Landesschule (Korbach) – spürt Delius, der sich „Kulturprotestant“, „heiterer Agnostiker“ und „heimatloser Heimatdichter“ nennt, seinen Prägungen nach. Ihm gelingen hinreißende Passagen: über Sammy Drechsels Fußball-Roman „Elf Freunde müsst ihr sein“, erste Verliebtheiten, und über die Ahle Worscht. Die grobe, fast harte runde Leberwurst „könnte ich meine Madeleine nennen“, so Delius – in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ruft das in Tee getunkte Feingebäck Kindheitserinnerungen hervor. Allein der Majoranduft dieser Wurst genüge, die Dörfer der 50er-Jahre zu beschwören: „Ein Biss, und schon sind die Äcker, Heuballen, Ställe, Bauernstuben, Mittagsglocken, Kornfelder wieder da, und vieles mehr.“

Verblüffend ist, wie freimütig Delius, nach der anfänglichen Scheu, sich mit der eigenen Biografie zu beschäftigen, nun sein Leben offenbart, auch Schwächen wie die Blasiertheit und Selbstüberschätzung des Studenten benennt („Arroganz“). Für diese Offenheit stehen Stichworte von der Blutgruppe A bis zum Medikament Apixaban.

Das Wort „Abschied“ reserviert Delius für Willy Brandt. Zu „Anfänge“ nur einen Satz: „Es gibt kein Ende, es gibt nur Anfänge.“ Doch Delius’ Lebensweg ist am 30. Mai 2022 zu einem Ende gekommen. Dieses Buch aber lädt zu neuen Anfängen ein: schon durch den Impuls, mit der Lektüre früherer Delius-Werke beginnen zu wollen.

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“ Erinnerungen mit großem A. Rowohlt, 320 Seiten, 24 Euro, Wertung: 5 Sterne

2. April, 11.30 Uhr, Hotel Schloss Waldeck: Lesung und Gespräch mit Ursula Bongaerts, Moderation: Klaus Brill, Lesung: Michael Quast. Karten und Infos zum Festival: literarischer-fruehling.de

Zur Person

Friedrich Christian (F. C.) Delius, geboren am 13. Februar 1943 in Rom als Sohn eines Pfarrers, wuchs in Wehrda (damals Kreis Hünfeld) und Korbach auf. 1963 Abitur, Germanistikstudium und Promotion in Berlin. Lesungen bei der Gruppe 47. Lektor zunächst im Verlag Klaus Wagenbach, später in dem von ihm mit gegründeten Rotbuch-Verlag. Seit 1978 freier Schriftsteller. Vater zweier Töchter, seit 2003 in zweiter Ehe mit Ursula Bongaerts, Leiterin der Casa di Goethe, verheiratet, mit der er in Rom lebte. Büchner-Preis 2011, viele weitere Auszeichnungen. Delius starb am 30. Mai 2022 in Berlin.

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