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Info-Stand auf documenta zeigt: „Antisemitismus ist in vielen Köpfen fest verankert“

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Von: Matthias Lohr

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1000 Besucher in nur einem Monat: Julia Alfandari von der Bildungsstätte Anne Frank mit documenta-Besucher Remy Malfroidt aus Belgien.
1000 Besucher in nur einem Monat: Julia Alfandari von der Bildungsstätte Anne Frank mit documenta-Besucher Remy Malfroidt aus Belgien. © Christina Hein

Einen Monat lang informierte die Bildungsstätte Anne Frank auf der documenta über Antisemitismus und Rassismus. Die Bilanz zeigt: Es sind noch viele weitere Gespräche nötig.

Kassel – In den vergangenen vier Wochen hat Julia Alfandari auf dem Friedrichsplatz so viele Gespräche mit documenta-Besuchern geführt, dass sie nun nur noch schlecht schläft. Als pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank verantwortete die 38-Jährige den Info-Stand, den die Frankfurter Einrichtung infolge des Antisemitismus-Eklats am 26. Juli eröffnet hatte.

Von mittags bis abends redeten Alfandari und ihre Kollegen mit Gästen über das abgebaute Werk von Taring Padi, antisemitische Bildsprache, Rassismus und deutsche Erinnerungskultur. „Unsere Gespräche haben gezeigt, dass der Antisemitismus in vielen Köpfen fest verankert ist“, sagt Alfandari: „Das bereitet mir schlaflose Nächte.“

Freitag hatte der Info-Stand zum letzten Mal geöffnet. Wegen der großen Nachfrage war das Angebot bereits um zwei Wochen verlängert worden. Mehr ließen die personellen Kapazitäten der Bildungsstätte nicht zu.

In den Gesprächen stellten Alfandari und Kollegen fest, dass selbst Bildungsbürger „völlig selbstverständlich krude antisemitische Verschwörungstheorien äußern“ und es generell „an der Kompetenz mangelt, Antisemitismus überhaupt zu erkennen“. Trotzdem oder gerade deswegen habe sich das Angebot gelohnt. Alfandari sieht „weiterhin dringenden Bedarf, Brücken zu bauen, aber auch klare Grenzen zu setzen, wenn Antisemitismus oder Rassismus geäußert werden“.

Die Bildungsstätte ist so eine Brücke. Ihr Leiter Meron Mendel fiel in der aufgeregten Antisemitismusdebatte früh als besonnener Experte auf – ehe er sich aus Verärgerung über das mangelnde Krisen-Management der documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann als Berater zurückzog.

Seit Schormann-Nachfolger Alexander Farenholtz im Amt ist, hat sich die Kommunikation mit der documenta laut Alfandari deutlich gebessert. Auf die Frage, wie die documenta auf das nun beendete Angebot zurückblickt, antwortet eine Sprecherin der Kunstschau, man habe „die Initiative logistisch und finanziell unterstützt und ist erfreut darüber, dass die Bilanz der Bildungsstätte positiv ausgefallen ist“.

In den vier Wochen sind etwa 1000 Besucher zum Info-Stand gekommen. Darunter waren auch einige documenta-Künstler, die Alfandari bei ihren Rundgängen über die Ausstellung kennengelernt hatte. Sie fragten: „Was ist das mit den Deutschen und den Juden?“ Lauf Alfandari haben sie das besondere Verhältnis nicht verstanden. Und sie seien frustriert, „weil ihre Kunst nun als böse abgestempelt wird“.

Die Antisemitismus-Expertin hält einen Teil der Ausstellung für problematisch, aber die documenta sei nicht gescheitert. Den Verantwortlichen rät sie, sich nach dieser Schau „mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und sich zu hinterfragen“.

Besonders nachdenklich hat Alfandari eine Verschwörungserzählung über die documenta gemacht, die ihr ein Besucher erzählte. Demnach sei die ganze Debatte nur ein Ablenkungsmanöver von Israel, damit die Welt nicht von der ermordeten palästinensischen Journalistin Schirin Abu Akle redet. Taring Padi, so die Verschwörungserzählung, handelte eigentlich im Auftrag des Mossad. Auch diese Geschichte vom bösen Israel macht deutlich, dass noch viele Gespräche nötig sein werden.

Die Bildungsstätte Anne Frank veranstaltet am 22. September (20 Uhr) in Frankfurt eine Diskussion über Kunst zwischen Antisemitismuskritik und Postkolonialismus. Die Debatte, an der auch die Künstlerin Hito Steyerl teilnimmt, wird live gestreamt. Infos: bs-anne-frank.de

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