Antisemitismus-Kritik gegen documenta: Christian Geselle wollte keine Experten

Nach dem Aufkommen der Antisemitismus-Vorwürfe im Januar machte der Bund Vorschläge, das Problem in den Griff zu bekommen. Kassels Oberbürgermeister lehnte diese ab.
Kassel – Am 17. Januar erhielten Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann und Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) eine Mail aus Berlin. Die Nachricht kam aus dem Büro von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, ihr Inhalt war brisant.
Wenige Tage zuvor waren Antisemitismusvorwürfe gegen die Kasseler Kunstschau laut geworden. In der Mail mahnte Roths Amtschef Andreas Görgen angesichts des medialen Drucks ein schnelles und umsichtiges Handeln an. Sonst könnte die documenta gefährdet werden. Zudem schlug er vor, dass sich der Aufsichtsrat der documenta bei der Aufarbeitung der Vorwürfe mit einem internationalen Beirat austauschen solle. Oberbürgermeister Geselle, der auch Vorsitzender des Aufsichtsrates der documenta ist, lehnte dies ab.
Über die Mail berichtete am Montagabend der „Spiegel“. Geselle will sich zu der Mail nicht äußern. Die documenta beantwortete eine Anfrage gestern ebenfalls nicht, aber Hessens Kunstministerin Dorn hat der HNA den Inhalt der Nachricht bestätigt. Die Grünen-Politikerin hatte den Vorschlag von Roth unterstützt und sagt nun: „Im Nachhinein betrachtet hätte eine solche Beratung hilfreich sein können, um für Antisemitismus und antisemitische Chiffren stärker sensibilisiert zu sein und um auf mögliche Krisensituationen besser vorbereitet gewesen sein zu können.“
Schon die letzte Formulierung macht deutlich, wie kompliziert das alles ist. Laut Dorn lehnte Geselle den Vorschlag Roths ebenso ab wie den Wunsch, den Aufsichtsrat zu dem Thema einzuberufen. Zu groß waren offenbar seine Befürchtungen, in die künstlerische Freiheit der Kuratoren einzugreifen.
Auch jetzt teilt ein Stadtsprecher mit: „Der Oberbürgermeister hat stets betont, dass Kunst frei sei. Politik und Gremien haben sich da nicht einzumischen. Die Kunstfreiheit habe aber dort ein Ende, wenn geltendes Recht verletzt werde.“ Auch Geselles Parteikollege, der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel, hatte immer wieder die Kunstfreiheit angemahnt.
Dorn ist überzeugt, dass ein beratendes Gremium, wie Roth es vorschlug, „die Kunstfreiheit selbstverständlich gewahrt hätte“. Zu den Experten, die Roths Amtschef Görgen vorschlug, zählte neben Raphael Gross vom Deutschen Historischen Museum in Berlin auch Meron Mendel. Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank hilft der documenta nach dem Eklat um das antisemitische Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi nun bei der Begutachtung von Kunstwerken.
Später machte Dorn der documenta ebenfalls Vorschläge. So hielt sie es für angebracht, eine Task Force zum Antisemitismus zu bilden. Und sie legte den Verantwortlichen in Kassel einen Austausch zur Beratung mit dem Demokratiezentrum Hessen der Marburger Universität nahe. „Inwiefern beide Vorschläge von der documenta-Leitung damals bewertet und berücksichtigt wurden, ist Teil der aktuell stattfindenden Klärung“, sagte Dorn der HNA. Es lasse sich aber feststellen, dass sie bis heute zumindest nicht realisiert wurden.
Die Sätze aus Wiesbaden klingen nach deutlicher Kritik an Geselle und vor allem an Schormann. Auch in Berliner Polit-Kreisen ist zu hören, dass man den Umgang der Verantwortlichen in Kassel mit den ersten Antisemitismus-Vorwürfen zumindest für naiv hielt.
Von der Bundeskulturstiftung in Halle (Saale) kommen ebenfalls kritische Stimmen. Laut einer Sprecherin haben sich die Vorstände der Einrichtung, Hortensia Völckers und Alexander Farenholtz, 2018 zum Rücktritt aus dem documenta-Aufsichtsrat entschieden, nachdem Geselle dem Gremium „nicht länger die maßgeblich steuernde Rolle zubilligen wollte, sondern diese durch die Gesellschafter unmittelbar übernommen werden sollte. Dadurch wäre eine Mitsprache des Bundes praktisch zur Wirkungslosigkeit verurteilt gewesen.“
Nun will der Bund wieder mehr Einfluss nehmen. Auch deswegen hat Kulturstaatsministerin Roth gerade einen Fünf-Punkte-Plan vorgestellt und eine Strukturreform angemahnt. Seitdem gerät die zuletzt arg kritisierte Grünen-Politikerin aus der Schusslinie. Ihr Parteikollege Volker Beck, der Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ist, sagte dem „Spiegel“: „Die Rücktrittsforderungen müssen sich an die Hauptverantwortlichen des Antisemitismusskandals richten.“ Die eigentlich Verantwortlichen seien Schormann und Geselle.