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Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta: Oberbürgermeister Geselle bezieht Stellung

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Von: Helena Gries, Mark-Christian von Busse

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Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) hat sich zu den Antisemitismus-Vorwürfen gegen die documenta fifteen geäußert. (Archivbild)
Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) hat sich zu den Antisemitismus-Vorwürfen gegen die documenta fifteen geäußert. (Archivbild) © Swen Pförtner/dpa

Das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus (BGA) erhebt schwere Vorwürfe gegen die documenta fifteen. Jetzt nimmt Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle Stellung.

Update vom Sonntag, 16.01.2022, 15.15 Uhr: Nach den Antisemitismus-Vorwürfen gegen die documenta fifteen hat sich nun auch Kassels Oberbürgermeister und documenta-Aufsichtsratsvorsitzender Christian Geselle geäußert. „Die documenta ist eine internationale Kunstschau, die nicht allein die deutsche Sicht auf Vermittlung künstlerischer Positionen, sondern gerade die internationale Sicht zum Gegenstand hat. Dieser Weg wurde seit der Berufung Okwui Enwezors zum künstlerischen Leiter der documenta 11 im Jahr 2002 entschieden zunehmend beschritten“, erläutert Christian Geselle.

Mit dem indonesischen Künstlerkollektiv ruangrupa kuratierten 2022 zum ersten Mal Vertreter aus Asien die documenta, die auch die Perspektive des globalen Südens berücksichtigen, so Geselle. Dabei seien unter anderem die Hinterfragung von Machtverhältnissen und dekoloniale Ansätze zentrale Gegenstände. „Bei der Berufung von ruangrupa im Jahr 2019 war man sich dessen bewusst und zugleich der Meinung, dass man im Rahmen der documenta fifteen eine öffentliche Auseinandersetzung zu diesen Themen nicht nur aushalten, sondern diese auch dringlich geführt werden muss“, führt Geselle weiter aus. Der Wille, sich dieser Herausforderung zu stellen, habe in der Öffentlichkeit ein sehr positives Echo erfahren. Gleichzeitig sei man sich aber einig, dass dies nicht zur Überschreitung roter Linien führen dürfe. In diesem Zusammenhang habe sich ruangrupa für die documenta fifteen klar und deutlich gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus sowie jede Art von Diskriminierung positioniert.

Nach Antisemitismus-Vorwürfen gegen documenta: Kassels Oberbürgermeister nimmt Stellung

„Die Freiheit der Kunst ist die wichtigste Voraussetzung für die Existenz und weltweite Bedeutung der documenta. Ohne diese ist alles nichts und vor allem keine documenta in Kassel“, stellt OB Geselle heraus. Die Freiheit der Kunst zu wahren und zu verteidigen sei daher Aufgabe aller, die an Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung glauben. Eine Überprüfung oder gar einen Eingriff in die künstlerische Freiheit dürfe es nicht geben; wenn überhaupt nur bei Überschreitung der oben beschriebenen roten Linien. „Die hat es hier aus meiner Sicht bislang nicht gegeben, was auch von renommierten Dritten in dieser nicht sachlich vom Zaun gebrochenen und aufgeheizten Debatte geteilt wird“, so Geselle.
 
Deutschland habe aus seiner Vergangenheit heraus eine herausragende Verantwortung für Menschen jüdischen Glaubens und den Staat Israel. Das sei Staatsräson für die Bundesrepublik Deutschland und ebenso „Stadträson“ für die Stadt Kassel. „Wir sind mit unserer jüdischen Gemeinde in Kassel, den Menschen in Israel und in unserer Partnerstadt Ramat Gan freundschaftlich eng verbunden und dokumentieren dies auch öffentlich. Meine persönliche Integrität steht diesbezüglich außer Frage. Alle Menschen haben das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde, Freiheit und Frieden“, so Geselle abschließend.

Antisemitismus bei der documenta? Kasseler Bündnis erhebt Vorwürfe gegen Künstlerische Leitung

Erstmeldung vom Freitag, 14.01.2022, 15.46 Uhr: Kassel – Das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus (BGA) erhebt schwere Vorwürfe gegen die documenta. An der 15. Ausgabe der Weltkunstausstellung, die vom 18. Juni bis zum 25. September stattfinden wird, seien antiisraelische Aktivisten beteiligt. Kassel drohe zum Ort propalästinensischer und antisemitischer Agitation zu werden.

Eine Stellungnahme der Initiative Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus (BGA) wirft den Künstlerischen Leitern der documenta fifteen, Ruangrupa, die Einladung an das Kollektiv The Question of Funding als eines der „Lumbung Member“ vor. Das sind 14 Kollektive, die das Konzept der Ausstellung von Ruangrupa mit Leben füllen sollen. Lumbung meint wörtlich übersetzt Reisscheune – Ziel ist die gemeinschaftliche Verwendung überschüssiger Ressourcen.

Kasseler Bündnis kritisiert Künstlerkollektiv der documenta: Wollte die Organisation antisemitische Wurzeln verschleiern?

The Question of Funding – „Eine Frage der Förderung“ – hat seinen Sitz in Ramallah und Ursprünge im Khalil al Sakakini Cultural Center (KSCC). Die Kunst- und Kulturorganisation ist in Ramallah, Birzeit, Gaza-Stadt und Bethlehem aktiv und veranstaltet Ausstellungen, Festivals, Konzerte, Filmscreenings und Lesungen. Der Namensgeber dieser Organisation, Khalil al Sakakini (1878-1953), ein arabisch-christlicher Pädagoge, sei ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen und habe ab 1936 den Aufstand in Palästina mit Terroranschlägen auf Zionisten befürwortet, so das Kasseler Bündnis.

Ursprünglich taucht in den documenta-Veröffentlichungen das Khalil al Sakakini Cultural Center noch auf. Dass es durch The Question of Funding ersetzt wurde, ist für das Bündnis gegen Antisemitismus kein Zufall. So sollten die Wurzeln – die Einrichtung sei 1996 als Unterabteilung des Kultusministeriums gegründet worden – und der Namensgeber Khalil al Sakakini verschleiert werden.

Kasseler Kunstaustellung stellt klar: „documenta unterstützt in keiner Weise Antisemitismus“

Auf HNA-Anfrage erklärte die documenta: „Die documenta fifteen unterstützt in keiner Weise Antisemitismus. Sie vertritt die Forderung der Freiheit von Kunst und Wissenschaft und unterstützt das Anliegen, Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus sowie jeder Art von Diskriminierung entschieden entgegenzutreten.“ Die documenta fifteen werde sich intensiv mit der Kritik auseinandersetzen.

Yazan Khalili, der Question of Funding im Dezember in der Reihe „Lumbung Konteks“ der documenta vertrat, war laut Bündnis gegen Antisemitismus ebenso KSCC-Direktor wie Lara Khaldi, die zum „Artistic Team“, dem Leitungsteam der d15 um Ruangrupa, gehört.

Die künstlerischen Leiter der documenta fifteen in Kassel: Ruangrupa, aufgenommen 2019 vor Beginn der Corona-Pandemie, mit Daniella Fitria Praptono (von links), Julia Sarisetiati, Ade Darmawan, Farid Rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Reza Afisina, Indra Ameng, einem Gast und Ajeng Nurul Aini.
Die künstlerischen Leiter der documenta fifteen in Kassel: Ruangrupa, aufgenommen 2019 vor Beginn der Corona-Pandemie, mit Daniella Fitria Praptono (von links), Julia Sarisetiati, Ade Darmawan, Farid Rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Reza Afisina, Indra Ameng, einem Gast und Ajeng Nurul Aini. © Saleh Husein/documenta

Kasseler Bündnis wirft Künstlerkollektiv der documenta Antisemitismus vor

„Mit Tanzen in den Widerstand“, war der Bericht unserer Zeitung über das Online-Gespräch betitelt: Fayrouz Sharqawi und Khalili beschrieben den arabischen Tanz Dabke, bezogen auf die „Nakba“, Flucht und Vertreibung aus dem britischen Mandatsgebiet 1948, als Ausgangspunkt einer Befreiung heute – in Form von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Voraussetzung sei die Autarkie in der Nutzung des Bodens. Ein Beispiel: Auf den Märkten müsse kein Obst und Gemüse aus Israel gekauft werden. Für das BGA ist das „die postkolonial romantische Verklärung von Blut und Boden“.

Das Kasseler Bündnis wertet Yazan Khalili und Lara Khaldi als Teil der BDS-Bewegung. Die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) will durch die wirtschaftliche und kulturelle Isolation Israels Forderungen wie dem Ende der „Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes“ und dem „Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf eine Rückkehr in ihre Heimat“ Nachdruck verleihen. Khalili gehe das nicht weit genug, so das Kasseler Bündnis: Er verlange, die Existenz des zionistischen Staates zu beenden. 

documenta fifteen in Kassel: BDS-Bewegung gilt als antisemitisch - Kasseler Bündnis schlägt Alarm

Der Bundestag hat die BDS-Bewegung 2019 mit großer Mehrheit als antisemitisch bezeichnet. Der Antrag „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ wurde damals mit den Stimmen der Union, von SPD, FDP und Grünen beschlossen. Darin heißt es, es sollten mit staatlichen Mitteln keine Organisationen oder Projekte gefördert werden, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, zum Boykott aufrufen oder BDS aktiv unterstützen.

Das Bündnis macht weitere BDS-Unterstützer bei der documenta fifteen aus: Ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan, den indischen Künstler und vierfachen documenta-Teilnehmer Amar Kanwar und den britischen Kunsthistoriker Charles Esche, Direktor des Van Abbemuseums in Eindhoven. Letztere gehörten der Findungskommission an, die Ruangrupa vorgeschlagen hat. Boykottaufrufe Israels wie „A Letter Against Apartheid“ und „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“ hätten documenta-Künstlerinnen wie Jumana Emil Abboud (sie hat mehrere „Lumbung Calling“-Gespräche auf Youtube moderiert), Marwa Arsanios, Yasmine Eid-Sabbagh und der kürzlich verstorbene Jimmie Durham unterzeichnet.

Im BGA-Text ist von einem braunen Schatten auf der documenta die Rede – von den Begründern bis zum völkisch-anthroposophisch verquasten, in Kassel verehrten Joseph Beuys. Dieser „braune Touch“ sei nicht mehr altbacken-modrig, sondern trete im gegenaufklärischen, links-identitären Gewand auf, das „als fortschrittlich, kritisch, engagiert, empathisch, kultur- und identitätssenibel daherkommt“.

Kassel: Antisemitischer Aktivismus? documenta-Gruppe steht in der Kritik

The Question of Funding – eine „Frage der Förderung“ – nenne sich die Gruppe aus Ramallah, weil sie die Abhängigkeit von herkömmlichen Förderstrukturen infrage stellen will. Für das Kasseler BGA drückt es das Unbehagen aus, sich um Fördergelder bemühen zu müssen und von Geldgebern aus den USA und Europa abhängig zu sein, die bei allzu viel Nähe zu terroristischen Gruppen wie der Hamas den Geldhahn zudrehen könnten.

Mehr Nachrichten zu der Kunstausstellung lesen Sie auf der documenta-Themenseite.

Khalili agitiere für die Abschaffung Israels, so das BGA, selbst für kritische israelische Künstler gebe es in seinem Weltbild keinen Platz. The Question of Funding sehe er als kulturellen Beitrag an, „den Kampf gegen den jüdischen Staat Israel zu führen“. Khalili habe sich selbst als antisemitischer Schläger geoutet: Er habe eine gewaltsame Auseinandersetzung mit einem indischen Kellner in Amsterdam geschildert. Für die Chefredakteurin des Kunstmagazins „Monopol“, Elke Buhr, handelt es sich dabei aber nicht um einen Erlebnisbericht, sondern um einen fiktiven Text.

Wegen Boykott-Initiative gegen Israel: BGA fordert Konsequenzen für Künstlerkollektiv der documenta

Personen, die die BDS-Initiative förderten, hätten nichts in documenta-Gremien zu suchen, fordert die Gruppe BGA. Sie erwartet vom Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle, dass er als documenta-Aufsichtsratsvorsitzender seinen Einfluss geltend macht und dafür eintritt, dem Beschluss des Bundestags zu folgen. Wer Boykott-Initiativen gegen Israel unterstütze, dürfe keinen Platz in einer maßgeblich durch öffentliche Gelder finanzierten Ausstellung haben.

Auslöser für die Gründung des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus (BGA) waren 2009 Angriffe auf einen pro-israelischen Info-Stand bei einer Demonstration gegen den Gaza-Krieg. Die Kundgebung hatte damals das Kasseler Friedensforum organisiert, auch islamische Gruppen nahmen daran teil. „Wir sind eine kleine Gruppe mit einem harten Kern von fünf, sechs Leuten“, sagt der Sprecher des Bündnisses, Jonas Dörge. Ihr Ziel sei, den auf Israel bezogenen Antisemitismus öffentlich zu machen, bewusst auch in polemischer Form. Der Text zur documenta sei von mehreren Autoren verfasst und deshalb anonym veröffentlicht worden.

Weitere Lumbung-Mitglieder neben The Question of Funding kommen unter anderem aus Großbritannien, Kolumbien, Kuba, Mali und Ungarn. Einziges deutsches Mitglied ist ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik in Berlin. (Mark-Christian von Busse)

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