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Antisemitismus auf documenta: „Deutschland hat ein Problem mit seiner Erinnerungskultur“

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Von: Matthias Lohr

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Protest gegen die israelische Besatzungspolitik: Am Eröffnungswochenende der documenta drückten nicht nur Palästinenser auf dem Opernplatz ihre Solidarität mit den Kuratoren von Ruangrupa auf.
Protest gegen die israelische Besatzungspolitik: Am Eröffnungswochenende der documenta drückten nicht nur Palästinenser auf dem Opernplatz ihre Solidarität mit den Kuratoren von Ruangrupa auf. © Dieter Schachtschneider

Der Palästinenser Ahmed Tubail kritisiert die Angriffe auf die documenta. Man wolle den globalen Süden dämonisieren. Die deutsche Erinnerungskultur lasse keinen Blick von außen zu.

Kassel – Die documenta wird nicht nur wegen antisemitischer Motive kritisiert, sondern auch weil palästinensische Künstler einseitig auf den Nahostkonflikt schauen würden. Darüber sprachen wir mit dem Deutsch-Palästinenser Ahmed Tubail, der seit 36 Jahren in Kassel lebt.

In manchen Medien ist davon die Rede, die documenta sei eine Kunstschau der Schande. Für Sie auch?

Um Gottes willen, nein. Das ist ein schlimmer Begriff. Mich erinnert das an den AfD-Politiker Björn Höcke und sein „Denkmal der Schande“, wie er das Holocaust-Mahnmal nannte. Diese documenta ist anders, weil sie aus dem globalen Süden auf die Welt blickt. Diese Stimmen aus den ehemaligen Kolonien werden von Kritikern dämonisiert und diffamiert.

Können Sie die Aufregung um das antisemitische Banner der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi nachvollziehen?

Ich kann die Aufregung verstehen. Bei dem antisemitischen Motiv auf dem riesigen Banner handelt es sich nur um ein kleines Bild. Aber so etwas sollte man nicht nur in Deutschland nicht zeigen. Es erinnert an die Stereotype des Judenhasses in Europa. Das rechtfertigt jedoch nicht die medialen Angriffe auf die documenta als solche. Sie wurde schon lange vor Beginn angegriffen – unter anderem weil ein palästinensisches Kollektiv eingeladen wurde. Islamophobe Gruppen dämonisieren diese Künstler. Taring Padi haben sich übrigens dafür entschuldigt, dass sie Gefühle verletzt haben. Das nehme ich ihnen ab. Man hätte über ihr Kunstwerk diskutieren sollen, statt es einfach abzuhängen. Aber die deutsche Erinnerungskultur steht dem im Weg.

Als das Werk abgebaut wurde, riefen Künstler „Free Palestine“ und „From the River to the Sea“. Wird damit das Existenzrecht Israels infrage gestellt?

Nein, wir Palästinenser fordern lediglich gleiche Rechte für alle und nicht die Vertreibung von Menschen jüdischen Glaubens. Zwischen Fluss und Mittelmeer liegt nicht nur Israel. Nach dem UN-Teilungsplan 1947 sollte es einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geben. Die Israelis haben die Westbank und den Gazastreifen besetzt. Die Palästinenser leiden unter der Besatzung und Vertreibung. „From the River to the Sea“ ist daher nur eine gerechte Forderung nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit.

Diese Rufe waren auch bei einer Kundgebung am Eröffnungswochenende auf dem Opernplatz zu hören. Können Sie verstehen, dass viele das als Bedrohung für Israel werten?

Diese Reaktionen stellen die Bedrohung künstlich dar. Man will den Status quo beibehalten. Bislang sind Palästinenser Menschen zweiter, dritter, vierter und fünfter Klasse. Sie leben in einem Apartheid-Regime. Wenn so viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben, kann man das nicht akzeptieren. Allein in den letzten sechs Monaten sind 64 Palästinenser durch israelische Soldaten und Siedler gestorben, davon 14 Kinder, also durchschnittlich mehr als 10 Menschen im Monat.

Das ist schrecklich, aber Sie vergessen die Raketen, die die Hamas auf Israel abfeuert. Auch dort sterben Zivilisten.

Es gibt Besatzer und Besetzte. Es gibt zwar eine palästinensische Autonomiebehörde, aber man bekommt im Gazastreifen keine Geburtsurkunde ohne eine israelische Genehmigung. Lebensqualität, Bewegungsfreiheit und Wasserversorgung – über all das im Gazastreifen entscheiden die Israelis. Mehr als zwei Millionen Menschen leben dort. Nicht umsonst wird es Guantanamo am Mittelmeer genannt. Ich selbst darf weder in den Geburtsort meiner Eltern nördlich von Gaza noch in die Westbank fahren, obwohl ich auch einen deutschen Pass habe. Für die Israelis bin ich immer Palästinenser. Meine deutsche Frau darf das alles natürlich. Was ist das sonst, wenn nicht Apartheid?

Das Bündnis gegen Antisemitismus (BGA), das die Debatte um die documenta im Januar entfacht hat, sagt: Wer Unterstützer der Israel-Boykott-Bewegung BDS einlädt, bekommt antisemitische Kunst zu sehen.

Das war ein paranoider Angriff des BGA. Es hat kritisiert, dass das palästinensische Kollektiv seinen Sitz in einem Kulturzentrum hat, das nach dem palästinensischen Pädagogen und Nationalisten Khalil al-Sakakini benannt wurde. Es wurde gesagt, er habe Hitler verehrt. Verschwiegen wurde, dass er sich in Briefen an seinen Sohn und in seinen Tagebücher mehrmals von den Nazis distanziert hat. Er schrieb, sie bringen Unheil über die Welt. Sein Gegner war die britische Besatzungsmacht. Man muss solche Dinge im Kontext sehen. Das macht das BGA nicht. Es verbreitet antipalästinensischen Rassismus.

Ein anderer Vorwurf lautet: Der postkoloniale Ansatz, den auf der documenta viele vertreten, sieht Israel als böse Kolonialmacht. Dabei ist das Land die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten.

Dann kann man keine Künstler aus dem globalen Süden mehr einladen. Viele wollen nicht wahrhaben, wie die Menschen dort die Welt sehen. Indonesien etwa war unter Suharto ein Terror-Regime, das auch von Israel unterstützt wurde. Wenn wir solchen Stimmen keinen Raum geben, versagen wir.

Ist das ein deutsches Problem?

Ja, Deutschland hat ein Problem mit seiner Erinnerungskultur. Sie ist eindimensional auf die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus ausgerichtet. Es fehlt hier eine multiperspektivische Erinnerungskultur. Es gibt nur den Holocaust und sonst nichts. Den Blick von außen lässt man nicht zu.

Kann man in Deutschland Kritik an der israelischen Besatzungspolitik äußern, ohne als Antisemit zu gelten?

Nein. Wir erleben das tagtäglich. Ich kenne viele, die sich nicht mehr äußern, weil sie Angst um ihren Job haben. Vor allem Palästinensern und Migranten aus arabischen Ländern wird die Freiheit genommen, ihre Meinung zu sagen. Wenn man etwa darauf hinweist, dass der Mord an der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Schirin Abu Akle durch israelische Soldaten unabhängig untersucht werden muss, kommt der Vorwurf des Antisemitismus. Das Gleiche ist es bei der BDS-Bewegung.

BDS will mittels eines Israel-Boykotts ein Rückkehrrecht der Palästinenser erreichen. In Deutschland klingt das wie der Nazi-Slogan: „Kauft nicht bei Juden“. Laut einem Bundestagsbeschluss ist BDS antisemitisch.

Es ist ein friedlicher Protest im Sinne von Mahatma Gandhi. Die Kritik an BDS verkennt, dass mehr als 20 Prozent der Israelis keine Juden sind. Der Nazi-Slogan ist historisch und faktisch falsch. Und selbstverständlich kann man israelische Produkte aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten boykottieren. Auch deshalb wird BDS in Israel von nicht wenigen unterstützt. Wenn ein israelischer Künstler als Sprachrohr des israelischen Militärs auftritt, gehen wir nicht mehr hin. Israel besetzt Palästina seit mehr als 50 Jahren. Jedes andere Land wäre längst von der internationalen Staatengemeinschaft boykottiert worden. Aber in Deutschland verteidigen selbst die Antisemitismusbeauftragten die Politik Israels.

Im WH 22 vergleicht Künstler Mohammad Al Hawajri mit „Guernica Gaza“ die deutsche Wehrmacht mit israelischen Soldaten. Ist das noch Kritik an der Besatzungspolitik oder schon judenfeindlich?

Das hat mit Judenfeindlichkeit nichts zu tun. Es geht um die Luftwaffenangriffe auf Gaza gegen die Palästinenser, etwa in den Kriegen 2008, 2012, 2014 und 2021.

Aber es ist krass einseitig. Palästinenser sind hier nur Opfer und Israelis nur Täter.

Gebt den Palästinensern ihre Freiheit, dann wird der Konflikt enden. Würden die Palästinenser endlich gleiche Rechte erhalten, wäre das nicht das Ende von Israel. Im Gegenteil.

Haben Sie noch Hoffnung auf eine friedliche Lösung?

Natürlich. Ohne Hoffnung könnten wir nicht weitermachen. (Matthias Lohr)

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