Ex-documenta-Geschäftsführer: Expertenbericht zum Antisemitismus ist Teil des Problems

Der Expertenbericht zum Antisemitismus-Eklat auf der documenta ging auch mit dem Ex-Geschäftsführer hart ins Gericht. Der weist nun auf Fehler und Ungereimtheiten in dem Papier hin.
Kassel – In ihrem Abschlussbericht zum Antisemitismus-Eklat auf der documenta fifteen gehen die Experten mit allen Beteiligten hart ins Gericht. Auch Alexander Farenholtz, der nach dem Aus der Generaldirektorin Sabine Schormann drei Monate als Interims-Geschäftsführer fungierte, wird kritisiert. Im Interview macht der 69-Jährige auf Ungereimtheiten und Fehler des von Gesellschafter und Aufsichtsrat eingesetzten Gremiums aufmerksam.
Herr Farenholtz, wie haben Sie den Bericht der Experten aufgenommen?
Es steckt viel Kluges in dem Bericht. Vor allem das Gutachten des Juristen Christoph Möllers halte ich für bedenkenswert. Ein Punkt, der mich umtreibt, ist jedoch das Rollenverständnis der Autoren. Sie stellen sich als unbefangene Beobachter dar. Dabei sind sie Konfliktpartei. Bei der Beurteilung des Geschehens sind sie genauso befangen wie Ruangrupa oder ich. So kommt es, dass man in der scheinbar besonnenen Darstellung polemische Einfärbungen findet.
Einmal heißt es über Mohamned al Hawajris Zyklus „Guernica Gaza“ bei der Adaption des Bildes von Marc Chagall, dass dies wie schon Marc Chagall bei der ersten documenta der einzige Beitrag eines jüdischen Künstlers gewesen sei. Hier wird das Narrativ der angeblich von Beginn an antisemitischen documenta weitergesponnen. Abgesehen davon, dass das historisch falsch ist: In einer Polemik kann man das schreiben, aber nicht in einem wissenschaftlichen Gutachten.
Warum sind die Experten für Sie Konfliktpartei?
Die letzten beiden Wochen der documenta fifteen waren dramatisch. Dies lag vor allem an der öffentlichen Forderung der Experten, die Vorführung der „Tokyo Reels“ in den Hübner-Hallen zu schließen. Die Filme des Künstler-Kollektivs Subversive Film förderten Israel-Hass und glorifizierten Terrorismus, hieß es.
Man kann das so fordern, also in den Ausstellungsprozess direkt einwirken, aber danach kann man dann nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die documenta aus einer distanzierten Position wahrzunehmen. Dafür waren die Verletzungen auf beiden Seiten zu groß. Das merkte man am Ende der documenta, als Ruangrupa verbal um sich schlugen. Man merkt es aber eben auch jetzt am Tonfall des Expertenberichts.
Woran machen Sie das fest?
Ein Beispiel: In der Geschichte der documenta hat eine Leitung meines Wissens noch nie künstlerische Beiträge durch rechtliche Gutachten darauf überprüfen lassen, ob sie das Strafrecht verletzen. Bei der documenta fifteen wurde das vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte getan. Der Bericht nimmt das auch zur Kenntnis, unterstellt aber, dass die Geschäftsführung dies nur aus Selbstschutz gemacht habe, um nicht der Beihilfe für schuldig befunden zu werden. Ganz im Ernst: Auf diesen Gedanken bin ich erst gekommen, als ich den Bericht gelesen habe.
Es gibt aber auch sachliche Fehler. Es heißt, ich hätte das Artistic Team in seine Schranken weisen müssen, weil sie als weisungsgebundene Mitarbeiter, anders als die Ruangrupas, nicht die künstlerische Freiheit für sich in Anspruch nehmen durften. Mal abgesehen davon, dass ich das für praxisfern halte, ist es einfach falsch. Die hatten ganz normale Kuratorenverträge und waren von der künstlerischen Freiheit gedeckt, die das Gutachten ihnen abspricht.
Die Experten schreiben auch, die Sprachlosigkeit der Geschäftsführung angesichts der antisemitischen Werke sei nicht mit ihren Pflichten als Vertreterin der öffentlichen Hand zu vereinbaren. Haben Sie ihre Pflichten als Geschäftsführer verletzt?
Nein. Es gibt in dem Bericht eine sehr interessante Position. Demnach dürfen Ausdrucksformen künstlerischer Freiheit unter Umständen nicht mehr unkommentiert im Raum stehen gelassen werden. Die Geschäftsführung als Statthalterin der gesellschaftlichen Verantwortung, so lautet die Forderung, müsse sich dann offen gegen Ausstellungsbeiträge positionieren oder gar in die Ausstellung eingreifen.
Das halte ich für einen Irrweg. Natürlich muss zwischen künstlerischer Leitung und Geschäftsführung diskutiert und auch gestritten werden. Aber wenn die Geschäftsführung das nach außen trägt, ist die Vertrauensbasis zerstört. Sie können sich vorstellen, wie viel Arbeit etwa die gemeinsame Erklärung von künstlerischer Leitung und Geschäftsführung zu Hamja Ahsan war, der Bundeskanzler Olaf Scholz übel beleidigt hat. So etwas gelingt nur, wenn es ein Vertrauensverhältnis gibt.
Welche Folgen hätte es letzten Sommer gehabt, wenn Sie in die Ausstellung eingegriffen hätten?
Sehr konkret wurde es zwei Wochen vor Ende, als die Forderung formuliert wurde, die Vorführung von „Tokyo Reels“ müsse abgestellt werden. Schon der Zeitpunkt zeigt, dass die Verhältnismäßigkeit hier aus dem Blickfeld geraten ist. Hätte ich die Forderung tatsächlich durchgesetzt, dann hätte die künstlerische Seite mit Sicherheit gesagt, dass die Ausstellung nunmehr beendet sei. Ich erspare es mir, mir auszumalen, was genau das für die documenta und ihre Geschichte bedeutet hätte.
Kritiker monieren, dass die Autoren einen Antisemitismus-Begriff zugrunde gelegt hätten, der legitime Kritik an der israelischen Besatzungspolitik diskreditiere. Sehen Sie das auch so?
Diesbezüglich habe ich aus dem Bericht einiges gelernt und den Eindruck, dass die Abwägung des Gutachtens der Komplexität der Frage gerecht wird, auch wenn man vielleicht nicht unbedingt zum selben Ergebnis kommt. Übrigens: Mir wurde vorgehalten, dass ich mich nicht öffentlich dazu geäußert habe, ob und welche Kunstwerke antisemitisch seien.
Das Expertengremium hat zur Beantwortung dieser Frage zu Recht, mehrere Monate und 130 Seiten mit zahlreichen Fußnoten in Anspruch genommen. Deswegen denke ich weiterhin, dass es besser ist, wenn sich ein Geschäftsführer da zurückhält. Und meine private Meinung behalte ich für mich.
Wie hilfreich ist der Expertenbericht insgesamt?
Er ist Teil des Problems. Die Wissenschaftler haben gewollt oder ungewollt die Legende von einer documenta fortgeschrieben, die pausenlos die rote Linie überschritten hat. Das hatte mit der Ausstellung, wie sie von den Besuchern wahrgenommen werden konnte, wenig zu tun. Es gibt wahrlich genug an der documenta fifteen, was kritisch diskutiert werden könnte, durch die öffentliche Debatte aber verdeckt wurde. Daran hat der Expertenbericht letztlich mitgewirkt.
Derzeit wird eine Strukturreform erarbeitet. Was müsste sich ändern?
Der Aufsichtsrat sollte eine andere Zusammensetzung finden. Die Politik muss nicht raus, aber ich fand es immer besser, wenn die Politik nicht die Sprechkultur eines Gremiums bestimmt hat. Das ist hier zu sehr der Fall. Zudem sollte klar sein, dass die nächste künstlerische Leitung die Kommunikation steuern muss. Bei der documenta fifteen haben tolle Leute in der Kommunikationsabteilung gearbeitet, aber die Ruangrupas haben sie nicht als ihr Instrument verstanden.
Wie sehr beschäftigt sie die documenta noch?
Ich bereue es nicht, dabei gewesen zu sein. Es war ein spannender Sommer. Und in Kassel war es eine schöne Zeit, wenn man nicht das Radio angemacht oder die Zeitungen aufgeschlagen hat. Ich denke, der Zeitablauf wird zu einem treffenderen Bild der d15 beitragen, als es jetzt noch vorherrscht. (Matthias Lohr)
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