Kunstministerin Dorn: Was die documenta leistet, ist großartig

Die hessische Kunstministerin Angela Dorn lobt den Mut der Kuratoren der documenta fifteen. Im Interview nimmt die Grünen-Politikern auch zur Antisemitismus-Debatte Stellung.
Wie froh sind Sie nach der monatelangen Antisemitismusdebatte, dass die documenta nun beginnt?
Ich würde das gern trennen: Froh bin ich, dass es losgeht, denn wegen Corona hatten wir lange Sorgen, ob die documenta überhaupt relativ normal stattfinden kann. Die Antisemitismusdebatte hätte ich mir differenzierter gewünscht. Sie wurde oft sehr schwarz-weiß geführt. Das hat nicht nur der documenta geschadet, sondern auch der notwendigen Debatte über Antisemitismus, die geführt werden muss. Es braucht einen echten Dialog und Verständigung.
Welche Fehler haben die Verantwortlichen nach den Antisemitismus-Vorwürfen gemacht?
Ein Ursprungsproblem war der Blog-Beitrag des Bündnisses gegen Antisemitismus (BGA), dessen Vorwürfe teilweise nicht validiert waren. Viele in der öffentlichen Debatte haben das nicht hinterfragt. Von der documenta und den künstlerisch Verantwortlichen gab es früh eine klare Stellungnahme, dass sie sich von Antisemitismus distanzieren. Im Vorfeld der Diskussionsreihe „We need to talk“ gab es auch Rücksprachen mit dem Zentralrat der Juden. Es ist also nicht so, dass der Zentralrat nicht eingebunden gewesen wäre. Gleichwohl gab es Kommunikationsprobleme bei der Organisation der Veranstaltungsreihe mit den angefragten Persönlichkeiten. Das mag auch einem Mangel an Zeit geschuldet gewesen sein. Es gab eine große Anstrengung der documenta, aber das hat offensichtlich nicht gereicht, wie die Reaktion vieler kritischer Stimmen zeigt, die ich sehr ernst nehme.
Welche Stimmen hören Sie?
Ich habe seither viele Gespräche zu dem Thema geführt. Dabei ist mir auch klar geworden: In der jüdischen Community wird die Diskussion oft differenzierter geführt als in den Medien und im Hessischen Landtag.
Der Vorwurf des BGA lautet: Ruangrupa und einige Kollektive hätten eine zu große Nähe zur BDS-Bewegung, die mittels eines Boykotts Israels erreichen will, dass die Palästinenser, die 1948 vertrieben wurden, ein Rückkehrrecht erhalten. Der Bundestag hat BDS in einem umstrittenen Beschluss als antisemitisch eingestuft.
Zur BDS-Bewegung habe ich eine klare Positionierung. Einen Boykott Israels halte ich für gefährlich. Er zielt auf die Heimstätte der Juden, die jahrhundertelang verfolgt wurden. Mit der Shoa wurde ein beispielloser Zivilisationsbruch in Deutschland begangen. Der Boykott verhindert Dialog und Verständigung in einem internationalen Konflikt, den wir unbedingt brauchen. Zudem ist die Verteidigung des Existenzrechts Israels für uns Deutsche Verantwortung und Verpflichtung. Dazu werde ich auch mit den künstlerisch Verantwortlichen auf der documenta sprechen. Jeder, der mit der BDS-Bewegung sympathisiert, muss in Deutschland Widerspruch erwarten. Klar ist aber auch: Ruangrupa und all die Künstlerkollektive wurden nicht für ihre Positionierung zu BDS ausgewählt. Sie wurden ausgewählt, weil sie den Kunstbegriff neu definieren wollen und die Themen Gemeinwohl und neue Formen der Beteiligung in den Fokus rücken. Es ist schade, wenn darüber nicht geredet wird.
Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der Kunstschau, die die erste documenta mit einem Blick aus dem globalen Süden ist?
Bei der Pressekonferenz wurde ich gefragt, warum es diesen Blick aus dem globalen Süden nicht schon viel früher gab. Das ist eine gute Frage. Großartig ist aber, dass es ihn jetzt gibt. Ich kenne keine Kunstausstellung dieser Größe in Europa, die das macht. Der Eurozentrismus muss überwunden werden. Durch Ruangrupa bekommen wir einen anderen Blick auf die großen Themen unserer Zeit geschenkt. Länder wie Indonesien müssen seit Jahrzehnten mit den Folgen der Erderhitzung umgehen, die wir im globalen Norden verursacht haben. Es ist beeindruckend, welchen Mut und welche Aufgeschlossenheit Ruangrupa angesichts dessen ausstrahlen.
Nach der letzten documenta wurde nur noch über die Finanzen geredet. Können Sie das diesmal ausschließen? Immerhin kommen nun so viele Künstler nach Kassel wie noch nie.
Es wurde aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt: Das Kosten-Monitoring ist im Aufsichtsrat jetzt ein wichtiges Thema. Etwas Sorgen bezüglich der Kosten habe ich noch wegen Corona. Es freut mich, wie gut der Kartenvorverkauf angelaufen ist. Es wurden deutlich mehr Karten verkauft als zum vergleichbaren Zeitpunkt vor fünf Jahren. Aber die documenta ist eine Weltausstellung mit einem internationalen Publikum. Da werden angesichts der Pandemie nicht die früheren Zahlen an internationalen Gästen erreicht werden können. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Und wir wissen noch nicht, wie sich die Lage entwickelt. Schon jetzt beobachten wir eine Virusvariante, die uns Sorgen bereitet. Das Gute an der documenta fifteen ist mit Blick auf die Pandemie, dass unheimlich viel draußen stattfindet.
Seit Jahren wird in Kassel ein Standort für das documenta-Institut gesucht. Zuletzt wurden fünf Standorte vorgestellt, aber jeder hat seine Mängel. Haben Sie einen Vorschlag?
Ich habe mir fest vorgenommen, dass wir uns als Land nicht in die Standortfrage einmischen. Das ist Sache der Stadt. Als Land wollen wir es schaffen, dass wir die Kooperationsvereinbarung aus dem Jahr 2016 umsetzen. Hier wurde als Ziel ausgegeben, dass aus dem Archiv heraus ein eigenständiges Forschungsinstitut gegründet wird, welches mit der Uni und anderen Einrichtungen kooperiert. Zu dieser Realisierung sind wir in Gesprächen mit der Stadt, der Uni und der documenta. Und wir haben für diesen Weg schon als Land viel investiert, seit dem Abschluss der Vereinbarungen sind das insgesamt mehr als fünf Millionen Euro.
Neben dem Standort ist auch die Frage offen, ob es ein rein wissenschaftliches documenta-Institut oder ein -Zentrum geben soll, das größer ist und auch Publikum anzieht.
Das ist kein Gegensatz. Es ist aus meiner Sicht naheliegend und folgerichtig, dass man aus dieser bedeutenden Weltkunstausstellung über die documenta und ihren Einfluss auf die Gesellschaft forscht. Die documenta war und ist immer ein Abbild ihrer Zeit und damit ein wichtiges Zeugnis, wie sich Kunst und Gesellschaft auch verwandelt haben. Auch meiner Ansicht nach ist es wichtig, dass man die documenta auch zwischen den Ausstellungen jenseits der bleibenden Kunstwerke in Ausstellungen wahrnehmen kann. Dafür ist die Forschung eines unabhängigen Forschungsinstituts wiederum Grundlage. Das Zentrum, wenn man sich dafür entscheiden sollte, wäre das Dach der Kooperation zwischen Institut, Archiv und der documenta gGmbH, die dann auch die Arbeit öffentlich darstellt.
Es gibt die Sorge, dass das für den Bau bereitgestellte Geld weg sein könnte, wenn die Debatte so lange dauert. Sind die Mittel in Gefahr?
Von unserer Seite sind die Mittel nicht in Gefahr. Die Mittel stehen zur Verfügung. Auch für den kommenden Doppelhaushalt stelle ich den Antrag auf eine weitere Verschiebung. Wir als Land geben für den Bau sechs Millionen Euro, der Bund zwölf Millionen. Wir sind in intensiven Gesprächen mit der Stadt, der Universität und der documenta, und ich hoffe, dass wir der Realisierung bald näherkommen. Auch ich habe eine Menge Arbeit da reingesteckt.
Auf Kritik stieß auch die Einführung von Parkgebühren am Bergpark Wilhelmshöhe durch die Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK). War die Entscheidung alternativlos?
Das hat die MHK selbst entschieden. Ich bin dafür da, die Rahmenbedingungen zu setzen. Ich kann und möchte mich nicht in die Details einmischen. Ich finde die Entscheidung aber richtig. Wenn man Parken überall kostenlos macht, setzt das die falschen Anreize. Die Gebühren werden niemanden daran hindern, die wunderbaren Einrichtungen im Bergpark zu besuchen. Gerade erst sagte mir eine kunstbeflissene Professorin, die außerhalb Hessens lebt: „Das kulturelle Erbe in Kassel kann sich mit Berlin und anderen großen Städten messen.“ In Marburg, wo ich wohne, gab es vor einigen Jahren übrigens einen Aufschrei, als 800 kostenlose Parkplätze an der Lahn verschwanden. Heute ist dadurch ein Ort mit einer sehr großen Lebensqualität entstanden, über den man sehr froh ist.
Nach dem Aus der Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) ist Nordhessen im schwarz-grünen Kabinett in Wiesbaden nicht mehr vertreten. Können Sie verstehen, dass man sich nicht wahrgenommen und abgehängt fühlt?
Die Landesregierung ist für das ganze Land zuständig. Auch ich bin viel im ganzen Land unterwegs. Und Nordhessen hat sehr starke direkt gewählte und in Nordhessen beheimatete Abgeordnete. Die Zeiten, in denen Nordhessen abgehängt war, sind längst vergangen. In Mittelhessen etwa schaut man voller Respekt nach Kassel und in die umliegenden Kreise. Was hier bei der Schaffung einer regionalen Identität und zur wirtschaftlichen Innovationsfähigkeit, etwa im Bereich Erneuerbare Energien geschaffen wurde, ist beispielhaft. Das will man anderswo nachmachen.
Das klingt, als könnten Sie sich auch ein Leben in Kassel vorstellen. Die Grünen suchen gerade eine Herausforderin oder einen Herausforderer von Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD). Es gibt Gerüchte, dass Sie antreten könnten.
Von diesen Gerüchten höre ich das erste Mal. Da ist nichts dran. Ich bin ganz sicher, dass die Grünen eine hervorragende Entscheidung treffen werden. Ich melde mich jetzt schon an für den Stand im Wahlkampf – aber nicht als Kandidatin, sondern um die Partei zu unterstützen. (Matthias Lohr und Florian Hagemann)