Rückblick: documenta 10 in Kassel (1997): Weichenstellung fürs 21. Jahrhundert

Die documenta 10 in Kassel konzipiert Leiterin Catherine David als Ausstellung, die sich kritisch mit der Gegenart auseinandersetzt. Das bringt ihr im Nachhinein viel Lob ein.
Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: die zehnte documenta in Kassel im Jahr 1997.
Ein Ende und ein Anfang – ein Abschied und ein Neubeginn. Beinahe prophetisch erscheint die zehnte documenta in der Rückschau. Es war nicht nur die letzte documenta vor dem Jahrtausendwechsel, sondern es war auch die erste documenta unter weiblicher Regie. Die Französin Catherine David übernahm die Leitung der documenta 10 im Jahr 1997. Von Beginn an hatte sie mit heftiger Kritik und mächtigem Gegenwind zu kämpfen – im Rückblick bot sie allen kritischen Stimmen die Stirn und schuf eine documenta, die als sinnliche Erfahrung erlebt wurde und sich als Weichenstellerin für das 21. Jahrhundert beweisen sollte.
Zahlen zur documenta 10
An der documenta 10 vom 21. Juni bis zum 28. September 1997 nahmen 195 Künstler teil. Sie stellten etwa 569 Werke aus – die auf einem Parcours vom Kulturbahnhof bis in die Karlsaue zu sehen waren. 629.000 Besucher wurden gezählt, das Budget betrug 21,732 Millionen D-Mark.
documenta 10 in Kassel: Leiterin Catherine David propagiert Plattform für politisch-kritische Künstler
David stellte zur Debatte, welchen Sinn und Zweck am Ende des 20. Jahrhunderts die documenta in einer Zeit habe, in der die großen Ausstellungen infrage stehen. David sprach damit sicherlich auch vorangegangene documenta-Ausstellungen an, die sich dem Vorwurf von zu viel Kommerzialisierung von Kunst stellen mussten. Die Leiterin wollte eine Veranstaltung, „die sich als kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart versteht“, wie sie im Vorwort des Katalogs schrieb. Grundlage war für sie jene Kunst, die sich kritisch mit dem Zustand der Welt auseinandersetzt.

Dazu rief David zu einer Abkehr vom normalen Ausstellungskonzept auf. Sie propagierte eine Plattform für politisch-kritische Künstler und nahm die weltweite Kulturdiskussion in den Blick. Die harsche Kritik lautete darauf, sie sei zu theorielastig, fördere den Intellektualismus und raube der Kunst jede Freude und Sinnlichkeit.
„100 Tage – 100 Gäste“ wird zu integralem Bestandteil der documenta 10 in Kassel
Doch David focht diesen Kampf gegen ihre Kritiker mit offenem Visier. Sie initiierte die Gesprächsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ in der documenta-Halle, die zu einem integralen Bestandteil der Ausstellung wurde und ein interdisziplinäres Forum bot, an dem die Besucher Abend für Abend an Vorträgen, Performances und Diskussionen teilnehmen konnten, aber auch Filme, Theater, Musik und Literatur geboten bekamen. Ein wahrer Publikumsmagnet.
Die documenta-Halle spiegelte auch optisch das Netzwerk einer verzweigten, lebendigen Diskussionskultur wider und stellte gleichzeitig die Malerei in einer völlig neuen Weise vor. Peter Kogler entwickelte am Computer ein Netzwerk aus verzweigten Röhren, das die 80 Meter lange Seitenhalle prägte. Obwohl digital gestaltet, stand das Werk durch die Präsentation doch in der Tradition der Decken- und Freskenmalerei.

Wer die documenta 10 erkunden wollte, sollte sich auf einen Parcours begeben. Dieser führte vom Kulturbahnhof über die inzwischen geschlossene Unterführung in Richtung Treppenstraße zum Friedrichsplatz und Museum Fridericianum, band das Ottoneum und die documenta-Halle ein und endete in der Karlsaue.
Kritiker geben sich geschlagen: documenta 10 in Kassel gilt als Wegbereiterin
Am Ausgangspunkt war etwa Lois Weinbergers bis heute dort bestehendes Kunstwerk „Das über Pflanzen ist eins mit ihnen“ zu sehen. Der Österreicher thematisierte Konflikte zwischen Fremden und Einheimischen in seinem Biotop im Schotterbett am Gleis 1 mit sogenannten Neophyten – Pflanzen, die aus anderen Regionen eingeschleppt wurden.
Bereits zum fünften Mal nahm Dan Graham an der documenta teil. Seine Videoinstallation in zwei gegenüberliegenden Schaufenstern der Treppenstraße eröffnete vielschichtige Wechselbeziehungen. Ebenfalls mit Raumwahrnehmung setzte sich Richard Hamilton in seinem Werk „Seven Rooms“ auseinander, das im Fridericianum in einem exakten Nachbau einer Galerie die Fotografien eben jener Galerie zeigte, auf die Hamilton am Computer Fotos seines Landhauses eingefügt hatte.
Angekommen in der Aue konnte man sich „sauwohl“ in dem von Rosemarie Trockel und Carsten Höller gestalteten „Haus für Schweine und Menschen“ fühlen. Die vermeintliche Idylle der Nähe zu den dort wühlenden Schweinen konfrontierte die Besucher mit der grausamen Realität gewinnorientierter Massentierhaltung.
Am Ende gaben sich die Kritiker geschlagen. Die documenta 10 gilt heute als eine Wegbereiterin für die nachfolgenden Ausgaben. Davids Konzept sei gelungen, sie habe den Blick „vom Einzelwerk auf den Gesamtzusammenhang“ gelenkt, lobte documenta-Kenner Dirk Schwarze die zehnte Ausgabe in unserer Zeitung. Gleichzeitig weist er auf die Maßstäbe der documenta 10 hin, die sie durch die unterschiedlichen Erfahrungsebenen geschaffen habe und die die nachfolgenden documenta-Ausstellungen nicht mehr außer Acht lassen könne. (Kirsten Ammermüller)