Rückblick: documenta 11 in Kassel (2002) – Mit Kunst die Welt besser begreifen

Der Kurator der documenta 11, Okwui Enwezor, nahm 2002 den Postkolonialismus in den Blick. Anders als zunächst befürchtet, entpuppte sich diese Schau als bildgewaltig und sinnlich.
Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: die elfte documenta in Kassel im Jahr 2002.
Die Ausstellung wird global. Diesen Schritt ging Okwui Enwezor mit seiner documenta 11 im Jahr 2002. Perspektiven aus der ganzen Welt waren vereint unter der Prämisse, in den Blick zu nehmen, unter welchen politischen Bedingungen Kunst entstehen kann.
Hier ist man schnell beim Kolonialismus angekommen – wie sind die einst kolonialisierten Ländern von Ausbeutung gezeichnet? Wie fangen sie neu an? Um dies zu bearbeiten, hatte Enwezor vier Konferenzen vorgeschaltet, die in Wien/Berlin, Neu-Delhi, St. Lucia und Lagos stattfanden. Diesen „Plattformen“ folgten in Kassel die 100 Tage Weltkunstschau.
Zahlen zur documenta 11
An der documenta 11 vom 8. Juni bis zum 15. September 2002 nahmen 117 Künstler teil. 651.000 Besucher wurden gezählt, das Budget betrug 18,1 Millionen Euro.
documenta 11 in Kassel: Überwältigend vielfältige und sinnliche Schau
Im karibischen St. Lucia ging es etwa – eine wichtige Vokabel in der documenta-11-Welt – um „Kreolisierung“ als Prozess des Entstehens einer Weltkultur. Sie geht auf die Ankunft der ersten Sklaven in der Neuen Welt zurück – Kreolisch als Kultur der Karibik –, meint aber im umfassenderen Sinn, wie aus Imperialismus und Kapitalismus eine hybride neue Kultur entsteht, die sich in Bildern, Sprache, Musik manifestiert. Enwezor: „Wenn die Globalisierung alte Kreisläufe des Kapitals definiert und umgestaltet hat, dann bildet die Kreolisierung ihren stärksten kulturellen Kontrapunkt.“
Der in Kalaba (Nigeria) geborene Kurator lebte in den USA, ab 2011 war er Direktor des Hauses der Kunst in München, wo er 2019 starb. Der erste nicht-europäische documenta-Chef zerstreute schnell die Befürchtung, dass mit dem theoretischen Überbau die Kunstschau spröde werden könnte. Die Besucher erwartete eine überwältigend vielfältige und sinnliche Schau.
Die Bildende Kunst als Möglichkeit, die Welt zu erklären – vom Großen bis zum individuellen Schicksal –, lief hier zur Bestform auf, viele herausragende Räume und Arbeiten der Künstler, die ein Kuratorenteam ausgewählt hatte, sind entstanden. Dazu erschloss die Ausstellung ein neues Areal: Das Gelände der Binding-Brauerei wurde für die Kunst fit gemacht, in klassischer Museumspräsentation konnten sich Besucher auf 6000 Quadratmetern irrgartengleich zwischen Kunst verlaufen.
Möglichkeit, die Welt zu erklären: Bildende Kunst lief auf documenta 11 zur Bestform auf
Die documenta-11-Themenlinien zeigen sich exemplarisch an der Arbeit „Galanterie und kriminelle Unterhaltung“ von Yinka Shonibare. Der Nigerianer hat eine Rauminstallation gestaltet, in der eine Kutsche und Figurengruppen zu sehen sind, die im Rokoko-Stil aus afrikanischen Stoffen geschneidert wurden. Sie zeigen sexuelle Posen. Shonibare greift eine Gepflogenheit besserer Stände im 18. Jahrhundert auf, auf Bildungsreise in „exotische“ Länder zu gehen. Dies wurde dafür genutzt, sich sexuell auszutoben – verantwortungslos, wie die kopflosen Gestalten andeuten.

Im Fridericianum gehörte zu den prägenden Arbeiten On Kawaras „One Million Years“. Das Vergehen der Zeit wurde von dem Künstler in dicken Büchern festgehalten, die eine Million Jahre auflisten. In der Ausstellung saßen Vorleser in einem Glaskasten, die daraus vortrugen – ein erstaunlich intensives, eindrucksvolles Erlebnis. Wie eine Chronistin arbeitete auch Hanne Darboven, der die Rotunde gewidmet war. Sie hängte für „Kontrabasssolo“ 4004 Blätter mit Zahlen an die Wände, die Musik ergeben sollen.
Ein Versuch, die Welt umfassend zu begreifen, war auch das Mammutprojekt der Brüder Grimm: ihr deutsches Wörterbuch. Der Künstler Ecke Bonk hat daraus eine Arbeit gemacht, die heute in der Kasseler Grimmwelt zu erleben ist. Zu den Titelseiten der Wörterbuchausgaben gesellt er eine Projektion aller Worteinträge mit ihren Lexikonerklärungen.

Ebenfalls einen lokalen Bezugsrahmen spannte Thomas Hirschhorn auf, der in der Kasseler Nordstadt in einer Wohnsiedlung mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft an seinem „Bataille-Monument“ arbeitete. So passte, was Enwezor programmatisch schrieb: „Der kritische Ansatz der Documenta11 erschließt sich nicht nur innerhalb der Optik und visuellen Logik zeitgenössischer Kunst.“ (Bettina Fraschke)