Rückblick: documenta 13 in Kassel (2012) – Carolyn Christov-Bakargievs universelle Ausstellung

Im Vorfeld der documenta 13 in Kassel sorgten die Pläne von Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev für Aufregung: Es sollte drei weitere Standorte geben.
Kassel – Vor Beginn der documenta fifteen am 18. Juni 2022 blicken wir in einer Serie auf die bisherigen 14 Ausstellungen zurück. Heute: die 13. documenta in Kassel im Jahr 2012.
Alle fünf Jahre herrscht in Kassel und der aufmerksamen Kunstwelt ein ganz besonderer Geist. Spekulationen werden konkreter, Ankündigungen der jeweiligen documenta-Leitung bringen Licht in das Dunkel und setzen das documenta-Puzzle zu einem mehr und mehr erkennbaren Bild zusammen. So ist es in diesen Tagen spürbar und so war es auch vor zehn Jahren, kurz vor dem Start der documenta 13.
Für viel Wirbel und ein Aufhorchen sorgte die Ankündigung der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev die documenta 13 dezentral an drei weiteren Standorten stattfinden zu lassen. Nicht nur Kassel sollte Schauplatz werden, sondern ebenso Kabul, Alexandria-Kairo und Banff (Kanada).
Zahlen zur documenta 13
194 Künstler nahmen an der documenta 13 vom 9. Juni bis zum 16. September 2012 in Kassel teil. 905.000 Besucher sahen die Ausstellung, mit einem Budget von 31 Millionen Euro. In Kassel gab es zahlreiche neue Standorte, darunter die Oberste Gasse 4, die Untere Karlsstraße 14, das Hugenottenhaus und den Bunker im Weinberg.
documenta 13 in Kassel: Zusammenbruch und Wiederaufbau – Afghanistan im Fokus
Was zunächst ein verwundertes Augenreiben hervorrief, löste sich, nachdem sich der Vorhang für das Publikum in Kassel geöffnet hatte, auf erstaunlich beeindruckende Weise ein. Christov-Bakargievs Leitmotiv lautete „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ („Collapse and Recovery“) – ein Konzept, das den Gründungsgedanken der documenta aufgriff und in einer globalisierten Weltordnung verankerte. Die wichtigste Achse der documenta 13 war Kabul – Kassel. Aus den Trümmern in Kassel entstand einst die erste documenta – Höhepunkt in Kabul war eine Ausstellung im Queen‘s-Palace, der heute nur als Ruine existiert.

In Kassel traf das Publikum ebenfalls auf zahlreiche afghanische Künstler oder nicht-afghanische Künstler, die in ihren Arbeiten Bezüge zu Afghanistan verknüpften. Dazu gehört unter anderem die Arbeit von Goshka Macuga. Die polnische Künstlerin ließ zwei opulente Wandteppiche anfertigen.
In Kassel war eine afghanische Festgesellschaft vor der Ruine des Dar ul-Aman Palastes zu sehen. Der Teppich war in der Rotunde des Fridericianums zu sehen, das als Ruine ursprünglich bildhaft für die erste documenta geworden war. Der zweite Teppich zeigt eine Gesellschaft bei der Verleihung des Arnold-Bode-Preises an die Künstlerin 2011, versetzt vor die Orangerie. Erst die imaginierte Zusammenführung umschließt die gesamte Rotunde des Fridericianums – Vision und Wirklichkeit gehen ineinander über.
Ausstellungsorte in der Karlsaue verteilt: documenta 13 in Kassel allumfassend angelegt
Auch wenn sich die Ausstellung über die ganze Stadt ausbreitete und sogar über die Grenzen des europäischen Kontinents reichte, bildete das Fridericianum das Zentrum der documenta 13. Beim Betreten des Museumsbaus war als erstes ein stetiger Wind zu spüren – das Auge verlor sich in den ansonsten weitgehend leeren Seitengängen. Ryan Gander Luftzug mit dem Titel „I Need Some Meaning I Can Memorize“ ganz auf die sensitive Wahrnehmung des Kunstbetriebes.

Im Erdgeschoss der Rotunde befand sich das „Brain – das Gehirn“ der Ausstellung. Abgetrennt durch eine Glasscheibe, auf die Lawrence Weiner „The Middle Of The Middle Of The Middle“ schrieb, befand sich ein Raum, in dem anstelle eines Konzepts „eine Reihe von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten versammelt sind“, wie Christov-Bakargiev im Katalog schrieb. Hier liefen die zahlreichen Stränge der documenta in Kassel und außerhalb zusammen.
An die 50 Ausstellungsorte und Objekte waren darüber hinaus in der Karlsaue verteilt. Die Leiterin unterstrich dadurch ihr allumfassendes Konzept, das letztlich die Auflösung des anthropozentrischen Bildes in der Kunst beinhaltete, in dem es auch einen Platz für Hunde zum Spielen gab. So expandierte die documenta 13 nicht nur räumlich. Auch bei der Auswahl der Disziplinen, die an der Ausstellung beteiligt waren und Genforschung, Quantenphysik, elektronische Musik und Computerwissenschaften mit einbezog, erweiterte Christov-Bakargiev den universellen Kunstbegriff selbst. (Kirsten Ammermüller)