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Ruangrupa und Artistic Team: Das hat die documenta fifteen mit Kassel vor

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Von: Kirsten Ammermüller, Bettina Fraschke, Mark-Christian von Busse

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Im Gespräch: Reza Afisina (von links), Ayse Güleç und Farid Rakun zu Besuch bei der HNA.
Im Gespräch: Reza Afisina (von links), Ayse Güleç und Farid Rakun zu Besuch bei der HNA. © Pia Malmus

Am 18. Juni beginnt in Kassel die documenta. Die 15. Ausgabe soll Gemeinschaft und Nachhaltigkeit in den Vordergrund bringen – und Kassel nachhaltig nutzen.

Kassel – Was wird die Besucher erwarten, wenn sich am 18. Juni 2022 die Türen zur documenta in Kassel öffnen? Laufen die Vorbereitungen nach Plan? Was ist der Hintergedanke beim kollektiven Arbeiten, das die künstlerische Leitung so schätzt? Beim Redaktionsbesuch in der HNA standen vom Leitungsteam Ruangrupa Reza Afisina und Farid Rakun sowie vom Artistic Team Ayse Güleç den Redakteuren unserer Zeitung Rede und Antwort.

Die kollektive, nachhaltige Arbeitsweise, die Ruangrupa seit 22 Jahren auszeichnet, sei nicht nur Etikett, sondern gelebte Praxis, sagt Farid Rakun, der Begriff dazu heißt Lumbung – wörtlich übersetzt Reisscheune. Dabei habe sich herausgestellt: „Wir sind nicht einzigartig, in dem, wie wir arbeiten, das ist nicht die Wunderpille.“ Es gebe immer mehrere Wege. Ziel: „Andere Künstler und Kollektive unterstützen.“

documenta fifteen: Kollektiv und verflochten mit anderen Künstlern arbeiten

Häufig benutzen die documenta-Macher im Gespräch den Begriff „Entanglement“. Übersetzen könnte man das mit Verstrickung, Verflechtung, auf jeden Fall ist eine größere Nähe damit gemeint, als wenn man den Begriff „Networking“, also Netzwerk oder Netz knüpfen nutzen würde. Das Wort ist – kein Zufall – auch emotionaler, sinnlicher.

„Kollektiv, das heißt nicht nur, gemeinsam zu arbeiten, sondern auch gemeinsam zu denken“, sagt Reza Afisina. Überall, wo die Kuratoren langfristige Projekte installiert haben, hatten sie als zentralen Ort ein Ruruhaus, wie in Kassel am Friedrichsplatz.

Auch die Corona-Pandemie hat die Kuratoren in ihrer gemeinschaftlichen Denk- und Arbeitsweise bestätigt. „Wir können uns aufeinander verlassen“, sagt Farid Rakun. Als die Covid-Panik um sich griff und viele Systeme auseinanderzufallen drohten, habe sich jeder auf sein unmittelbares Umfeld gestützt, gerade die Nachbarschaften hätten sich als wertvoll erwiesen. Ein stabiles Netz, das sich auch über Tausende Kilometer als verlässlich und wertvoll erweisen kann.

Globale Vernetzung bei documenta fifteen: Aus Kolumbien oder Neuseeland in die Videokonferenz

Oft schließen sich alle Teilnehmenden zwischen Kolumbien und Neuseeland global zu einer Videokonferenz zusammen – doch zu welcher Uhrzeit? „Das wechselt, es muss immer abwechselnd jemand leiden“, sagt Farid Rakun. Ihr Ziel sei es, die Künstler nicht in der Isolation zu lassen, sondern vielmehr Brücken zu bauen, das sei gerade in und nach der Corona-Zeit wichtig. „Sie sollen einander nicht erst bei der documenta-Eröffnung begegnen“, sagt Güleç.

Ruangrupa hat die Mitwirkenden in fünf Gruppen zusammengeschlossen, je nach Thema oder Arbeitsweise. Diese haben ein gemeinsames Budget und müssen miteinander entscheiden, wie es eingesetzt wird. Für das Wirken in der Stadt habe Ruangrupa ihnen viele Freiheiten bei der Wahl des Ausstellungsortes gelassen. „Im Laufe der Zeit sind die Künstler mehr und mehr in einen Wettbewerb um die Locations getreten“, sagt Farid Rakun.

Vernetzung in die Stadt: documenta-Macher wollen lokale Gruppen stärken

Zuhause in Jakarta seien sie in „Liebe und Hass“ mit der Stadt verbunden, sagt Reza Afisina. Sie wollen nicht die tollen Ruangrupas mit den Privilegien sein. Auch in Kassel nicht. Auch nicht als documenta-Leiter. Vielmehr leben sie hier, setzen sich mit der Stadt auseinander, mit den Nachbarschaften, mit all dem, was Kassel besonders macht.

Und sie blicken dabei auch in die Zukunft, wollen über die 100 Ausstellungstage hinaus wirken, damit die Stadt sich langfristig verändert und man nicht nur „wieder auf die nächste documenta in fünf Jahren wartet“, so Afisina. Wenn er in Gedanken den documenta-Parcours abwandert, merkt man, wie exzellent er sich inzwischen in Kassel auskennt. Galeriefest, Feinmechanik, Sandershaus, Rundgang, Galeria Kollektiva, all das zählt er auf – Afisina ist mit seiner Familie in der documenta-Stadt wirklich zu Hause.

Dabei soll die documenta nicht die einzige Bühne sein. „Wir wollen private in öffentliche und öffentliche in private Räume verwandeln.“ Begegnungsmöglichkeiten schaffen, Initiativen einen Raum geben und sichtbar machen, was bereits alles an spannenden Aktivitäten in der Stadt existiert. Von Bienenhaltung bis Flüchtlingsarbeit. „Dabei wollen wir nicht nur Know-how von Experten in Anspruch nehmen, sondern in die Initiativen und in die Stadt auch viel Energie hineingeben“, sagt Ayse Güleç.

Ekosistem: Ruruhaus als Zentrum der documenta

Lumbung, das wird immer wieder deutlich, ist kein theoretisches Konstrukt, sondern eine Arbeits- und Lebensweise, die die Künstler und Kuratoren in ihrem jeweiligen Umfeld, dem „Ekosistem“, umzusetzen versuchen. Das Ruruhaus ist dabei das Zentrum, von dem sie sich in die Stadt integrieren. „Es war das erste sichtbare Zeichen der documenta fifteen“, meint Afisina, alle Menschen, die neugierig seien, hätten dort die Möglichkeit, mit den Mitgliedern von Ruangrupa in Kontakt und in einen Austausch zu treten.

War das Fridericianum in vorausgegangenen documenta Ausstellungen das Zentrum, so wird es nun von Ruangrupa in „Fridskul – Fridericianum als Schule“ umbenannt und in seiner Funktionsweise nicht weniger wichtig, sondern neu gedacht. Ein Ort zum Leben und Lernen, zum Austausch und Verweilen, ganz dem Lumbung-Gedanken folgend, in dem Wissen als Ressource begriffen und dort geteilt wird.

„Es wird kein statischer Ort sein“, sagt Farid Rakun. Wer am Anfang die Fridskul besucht, wird nach seiner Rückkehr eine Woche oder auch einen Monat später einen veränderten Ort vorfinden. Künstler werden mit ihren Familien anreisen und im Fridericianum leben. Ihre Kinder werden dort zur Schule gehen.

Besuch bei der HNA: Henriette Sölter (d15 Presse, von links im Uhrzeigersinn), Reza Afisina, Ayse Güleç und Farid Rakun von der documenta-Leitung im Gespräch mit den Redakteuren Matthias Lohr, Christina Hein, Kirsten Ammermüller, Mark-Christian von Busse, Chefredakteur Axel Grysczyk und stellvertretender Chefredakteur Jan Schlüter sowie Bettina Fraschke, Leitung Kultur.
Besuch bei der HNA: Henriette Sölter (d15 Presse, von links im Uhrzeigersinn), Reza Afisina, Ayse Güleç und Farid Rakun von der documenta-Leitung im Gespräch mit den Redakteuren Matthias Lohr, Christina Hein, Kirsten Ammermüller, Mark-Christian von Busse, Chefredakteur Axel Grysczyk und stellvertretender Chefredakteur Jan Schlüter sowie Bettina Fraschke, Leitung Kultur. © Pia Malmus

Und auch das wird in dem Lumbung-Gedanken bei Ruangrupa groß geschrieben: Das gemeinsame „Abhängen“ und das Erzählen von Geschichten. In diesem Sinne wird es eine mobile Ausstellung des Kollektiv Foundation Class der Kunsthochschule Weißensee aus Berlin geben. Im Minicar, beispielsweise auf dem Weg vom Fridericianum zum Sandershaus, treffen die Besucher auf einen Storyteller und bekommen Geschichten erzählt.

Turbulenzen vor documenta fifteen: Wie geht es weiter mit der Antisemitismus-Debatte?

Ob Ruangrupa glauben, dass sich die Antisemitismus-Debatte, die zurzeit die Feuilletons beschäftigt, nach Eröffnung der Ausstellung beruhigen wird? „Wir hoffen es und wünschen es uns“, sagt Farid Rakun. Reza Afisina betont, dass es Ruangrupa um einen künstlerischen, nicht politischen Zugang zu Themen wie Postkolonialismus gehe. Die Unterstellung eines israelfeindlichen Antisemitismus werde von außen an die Ausstellung herangetragen, sagt Ayse Güleç, der Antisemitismusvorwurf sei überhaupt nicht aus den Kunstwerken selbst abzuleiten.

Es gebe aber viele Künstler, die sich in ihren documenta-Beiträgen gegen Rassismus aussprächen. Und auch Antisemitismus und Rassismus hingen zusammen – nicht umsonst habe der Attentäter von Halle, als er sich keinen Zugang zur Synagoge verschaffen konnte, in einem Imbiss irgendwie „migrantisch“ aussehende Opfer gesucht.

Langzeitfolgen des Kriegs sollen bei documenta fifteen beleuchtet werden

Hat der Krieg in der Ukraine einen Einfluss auf die Ausstellung? Ganz konkret, weil Materialien knapp werden und sich verteuern, sagt Farid Rakun. Ayse Güleç erinnert daran, dass es in den Heimatländern vieler documenta-Teilnehmer teilweise seit Jahrzehnten bewaffnete Auseinandersetzungen gibt und diese dort unter sehr schwierigen Umständen künstlerisch zu arbeiten versuchen.

Ihr ist es wichtig, Langzeitfolgen des Kriegs in den Blick zu nehmen – etwa in Afrika drohende Hungersnöte wegen der Kämpfe in der Ukraine. Für Künstler aus Mali, Syrien oder Kolumbien, wo es seit Jahren gewaltsame Konflikte gibt, ist die Ukraine weit weg. Genau deshalb ist es Ruangrupa wichtig, dass die Künstler ihren Aufenthalt in Kassel auch genießen können. Sie geben gern Tipps, wo es gutes Eis gibt und wo man köstlich asiatisch essen kann.

Aufregung kurz vor dem Start der documenta fifteen in Kassel

Angespannt seien sie jetzt, auf der „letzten Meile“ vor der Eröffnung nicht, sagt Farid Rakun. Da die meisten Kunstwerke hier vor Ort entstehen und wenig transportiert werde, gäbe es nicht die Gefahr, dass sie nicht rechtzeitig angeliefert würden. Und was verschifft werden muss, so Güleç, sei schon vergangenes Jahr auf den Weg gebracht worden.

Viel zu tun hat zurzeit das „Travel Department“ der documenta, das die Anreisen der bis zu 1400 an der d15 Beteiligten organisiert. Visa zu bekommen sei, gerade auch in Zeiten einer Pandemie, überhaupt nicht einfach. Ein Künstler aus Syrien habe illegal die Grenze in den Irak überquert, um von dort ein Visum zu beantragen. „Wir bekommen sehr gute Unterstützung vom Auswärtigen Amt, von den deutschen Botschaften und vom Goethe-Institut, das weltweit vernetzt ist“, berichten die Kuratoren.

documenta fifteen in Kassel: 250 Events allein im Juni – und viele Partys in Planung

Erfahrungswerte zeigen, dass der Großteil der documenta-Besucher aus der Region kommt. „Das passt zu unserer Herangehensweise ideal“, sagt Farid Rakun. „Das sind die Leute, die hier wirklich Zeit verbringen können.“ Wenn jemand aber ein geringes Zeitbudget habe, sei es vollkommen okay, sich nur ein oder zwei Orte herauszupicken. Oder sich für eines der Events zu entscheiden, von denen allein im Juni 250 stattfinden sollen. „Aber keine Sorge, manche sind kürzer als eine Stunde.“ Auch die Kuratoren selbst müssen sich dann entscheiden, was sie erleben können.

„Wir haben einen Drei-Kilometer-Radius vorgesehen, innerhalb dessen die Ausstellungsorte angesiedelt sind, wer alles abläuft, läuft etwa 6000 Schritte, das ist für die Gesundheit auf jeden Fall gut“, sagt Afisina augenzwinkernd. Man könne sich auch einfach am Platz der Deutschen Einheit etwas zu essen holen, am Fluss flanieren, der ein zentraler Ort der Schau ist, und vielleicht eine Party besuchen, denn „wir werden viele Partys veranstalten“. (Kirsten Ammermüller, Bettina Fraschke und Mark-Christian von Busse)

Künstlerische Leitung und Artistic Team

Der Künstler Reza Afisina (1977 in Bandung, Indonesien, geboren, Studium der Kinematografie in Jakarta) und Architekt Farid Rakun (Jahrgang 1982, Studium in seiner Geburtsstadt Jakarta und an der Cranbrook Academy of Art, Michigan, USA) gehören zum neunköpfigen Kollektiv Ruangrupa, das im Februar 2019 zur Künstlerischen Leitung der 15. documenta bestimmt wurde. In Jakarta ist Ruangrupa eine größere, lose Gruppe, darunter Künstler, Designer und Architekten, die einen Kunstraum betreibt, ausstellt, Radio macht und an der Bildungseinrichtung Gudskul beteiligt ist.

Ruangrupa hat ein fünfköpfiges Artistic Team berufen, dem Ayse Güleç (1964 in Ankara geboren) angehört. Sie arbeitete bis 2016 im Kulturzentrum Schlachthof, war Sprecherin des Beirats der d12, bildete bei der d13 Kunstvermittler aus und leitete bei der d14 den Bereich „Community Liaison“.

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